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Montag, 28. Februar 2011

Schlesische Spuren

Das Wappen von Gleiwitz  
Foto: © Barbara Gafert

Im Innenhof des Rathauses Wilmersdorf am Fehrbelliner Platz befinden sich 27 Mosaik-Wappen »ehemals ostdeutscher Länder und Städte«, die der bereits erwähnte schlesische Künstler Peter Ludwig Kowalski für die alte Hohenzollernbrücke anfertigte. Als die Brücke der Stadtautobahn weichen musste, wurden die Wappen 1957 im Innenhof des Rathauses Wilmersdorf angebracht. Sieben Wappen von schlesischen Provinzen befinden sich darunter: Niederschlesien, Breslau, Liegnitz, Neiße, Oberschlesien, Gleiwitz, Oppeln. Eine Tafel von 1992 erläutert unaufgeregt den Umgang mit den historischen Bezügen:

Montag, 31. Januar 2011

Stahl

Das Buch wird sich auch mit der Industrialisierung Berlins befassen, die maßgeblich mit Schlesien in Zusammenhang stand, sei es, weil Materialien wie Kohle, Stahl und Ton von dort importiert wurden, sei es, weil etliche Industrielle und Großindustrielle, die für Berlin und deutschlandweit bedeutsam waren, aus Schlesien stammten und auch dort Werke unterhielten. Etwas weniger bekannt als Borsig, aber auch sehr bedeutend war der schlesische Großindustrielle Georg von Caro, der aus einer jüdischen Familie in Breslau stammte. Sein Vater war Königlich Preußischer Kommerzienrat, Hüttenbesitzer und Kaufmann in Breslau sowie Teilhaber der dort ansässigen Eisenhandels-Firma Caro. Mit unternehmerischem Engagement baute Georg Caro dann die väterliche Eisengroßhandlung zu einer der größten Unternehmungen ihrer Art in Deutschland aus. Zusammen mit seinem Bruder Oscar fusionierte er etliche Hüttenwerke in Oberschlesien, so in Bobrek bei Beuthen, in Laband und Kattowitz zur »Oberschlesischen Eisenindustrie AG für Bergbau und Hüttenbetrieb«. Im Jahr 1910 rief Georg von Caro in Breslau die »Deutsche Eisenhandels AG« ins Leben, die mehrere Eisenhandelsfirmen aus Breslau und die Berliner Eisenfirma von Jacob Ravené zusammenführte. Darüber hinaus gehörten dem Caro-Konzern über vierzig Tochterunternehmungen in ganz Deutschland an, was zu einer geradezu märchenhaften Kapitalanhäufung führte. Um 1900 erwarb Georg von Caro östlich von Berlin die Rittergüter Gielsdorf bei Altlandsberg und Wilkendorf bei Strausberg. Auf Schloss Wilkendorf, wo Fontane übrigens seinen Roman »Effi Briest« konzipierte, verstarb Georg von Caro im Jahr 1913, millionenschwer.

Der aus Fraustadt in Schlesien stammende Architekt und Bauingenieur Paul Wittig arbeitete mit Eisen und Stahl, nachdem er um 1900 zum Direktor der Berliner Hochbahngesellschaft geworden war. Zuvor hatte er bereits sechzig Räume des neu erbauten Reichstags ausgebaut, die leider nicht mehr erhalten sind. Nun setzte er sich für den Ausbau und für die Modernisierung der Berliner U- und Hochbahn ein, um Berlin im internationalen Maßstab nicht ins Hintertreffen geraten zu lassen. Er plädierte für die Mitwirkung von Baukünstlern an der Gestaltung der U-Bahnhöfe. Seine eigene gestalterische Tätigkeit beschränkte sich auf den Ausbau von Treppengebäuden und Pfeilern in den Bahnhöfen.
Nur noch das Treppenhaus des Hochbahnhofs Warschauer Straße ist von seinen Bauten erhalten, das wilhelminisch-futuristische Torhaus für die Hochbahndurchfahrt am Landwehrkanal und viele andere Bauwerke existieren nicht mehr.
Zwei Gedenkplaketten, einmal im U-Bahnhof Klosterstraße und im U-Bahnhof Alexanderplatz, erinnern an Paul Wittigs Wirken als Ingenieur. Übrigens plädierte Wittig bereits sehr früh, jedenfalls schon vor dem Ersten Weltkrieg, für die Errichtung von Hochhäusern in Berlin, damals »Turmhäuser« genannt. Für die Bebauung des Potsdamer Platzes schlug er ein rundes Hochhaus vor, für »Turmbauten« am Bahnhof Friedrichstraße Warenhäuser und einen runden Hotelbau. Ausgehend von seinem Vorbild Manhattan setzte er sich leidenschaftlich für die Zulassung größer Bauhöhen an sorgfältig auszuwählenden Punkten ein, um »die städtebauliche Schönheit von Weltstädten, also auch in Berlin, zu heben.« (Paul Wittig, Studie über die ausnahmsweise Zulassung einzelner Turmhäuser in Berlin, Berlin 1918, S. 14)

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 20. Januar 2011

Witz

Werner Fincks Buch
Alter Narr – was nun?

erschien 1972

Im Februar 2009 fand im schlesischen Neiße eine »Geschichtswerkstatt Schlesien« statt. Dort sollten sich ältere und jüngere Teilnehmer in sogenannten Tandemgesprächen ihre Geschichten erzählen. Schwere Themen wurden berührt, wenn es um Traumatisierungen durch Diktatur, Krieg, Vertreibung und Sozialismus in Schlesien ging. Aber die Atmosphäre wurde nicht schwer, bedrückend und lastend. Das hing vor allem mit den älteren Teilnehmern zusammen, Schlesier, über siebzig Jahre alt, die zum Teil in Deutschland lebten, zum Teil in Schlesien geblieben waren. Es hing zusammen mit ihrem Humor. 

Allesamt waren sie selbstironisch, sprachspielerisch (»Hier kommen die Neißer Scheißer«), verschmitzt und hatten den Schalk im Nacken. Der Witz hatte ihre Physiognomien auf das Freundlichste geprägt. Alles Schwere und Ernste wurde leicht in ihrer Gegenwart, aber nicht etwa durch Oberflächlichkeit, sondern durch die Weisheit des Komischen. Daher war die Geschichtswerkstatt von einer Offenheit jeneits aller Sonntagsreden geprägt, eine Offenheit, die von einem heiteren Mutterwitz getragen wurde. Die jüngere Generation konnte nur staunen.

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Silesia cantat

Wie sagte ein aus dem Erzgebirge stammender Freund spöttisch, nachdem er das Weihnachtslied »wann das Rachermandel nabelt« (also: wenn das Räuchermännchen nebelt) zum Besten gegeben hatte? Gebirgsgegenden sind immer weihnachtsverdächtig. Das galt in hohem Maße auch für Schlesien. Immer wieder Berge, viel Gemüt, viel Brauchtum. Meine Mutter erzählt aus ihrem Dorf in Mittelschlesien, dass es dort üblich gewesen sei, in der Dämmerstunde des Heiligen Abends auf die Felder zu gehen und das Christkind mit der Flinte vom Himmel zu schießen.

Der gesangliche Höhepunkt des Weihnachtsabends in unserer Familie im Ruhrgebiet bestand, nachdem alle üblichen bekannten Weihnachtslieder gesungen worden waren, im Anstimmen zweier Lieder aus Schlesien. Einmal eine Vertonung des Eichendorff-Gedichts »Markt und Straßen stehn verlassen«, an dem mich die Perspektive des einsam durch die verschneiten Straßen einer Stadt stapfenden Wanderers stets begeisterte, an den Fenstern haben Frauen buntes Spielzeug fromm geschmückt, eines Wanderes, der dann die Stadtmauern verließ, tausend Kindlein stehn und schauen, sind so wunderstill beglückt, um in des Schnees Einsamkeit der Felder das wahre Geheimnis dieser gnadenreichen Zeit zu erfahren, während von draußen der Regen eines atlantischen Tiefausläufers an die Fenster schlug.

Und zum anderen das Lied »O du heilige, stille Nacht«, überliefert von meiner Großmutter aus dem Hultschiner Ländchen, ein Weihnachtslied, das so süßlich und alt-österreichisch klang, als entstammten die Jubelchöre der Weihnachtsengel mit ihren tremolierenden Girlanden direkt den katholischen Kirchenchören von Zauditz und Tröm. So sehr man sich auch dagegen wehrte: diese beiden Weihnachtslieder sprachen immer wieder das Gemüt an. Bevor dieses aber übermächtig werden konnte, belustigte uns der unglaublich pragmatische Realitätsgehalt eines bekannteren Weihnachtsliedes aus Oberschlesien, »Auf dem Berge, da wehet der Wind«, wenn es in dem Dialog zwischen Maria und Joseph heißt: »Ach, Joseph, lieber Joseph mein, ach hilf mir doch wiegen mein Kindelein!« »Wie soll ich dir helfen dein Kindlein wieg'n? Ich kann ja kaum selber die Finger bieg'n.« Um diesen Konflikt in ein zahnlos-süßliches »Schumschei, schumschei« einmünden zu lassen.

Kirchenchöre in Berlin und andernorts singen zur Weihnachtszeit immer wieder gerne Werke des Organisten und Kirchenmusikers Carl Thiel, der 1862 im schlesischen Klein-Öls geboren wurde, in Berlin wirkte und dessen vier- bis fünfstimmigen Chorsätze von »Ich steh an deiner Krippen hier«, »Freu dich, Erd- und Sternenzelt« und »Vom Himmel hoch, ihr Engel kommt« und vor allem »In dulci jubilo« sich großer Beliebtheit erfreuen. Aber der unbestrittene Höhepunkt eines jeden hellen und strahlenden Weihnachtsmorgens ist das »Transeamus«. Der Ursprung dieses Hirtenliedes liegt im Dunkeln, Transeamus usque Bethlehem, vermutlich entstand es aus einem liturgischen Krippenspiel in einem schlesischen Kloster, et videamus hoc verbum quod factum est, wurde dann nach Breslau überliefert und vermutlich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die heute bekannte Form gebracht, Mariam et Joseph et Infantem positum in praesepio, bis dann das Stimmenmaterial des weihnachtlichen Chorwerks von dem letzten deutschen Domkapellmeister Paul Blaschke 1945 aus dem Breslauer Dom nach Westdeutschland gebracht werden konnte, Transeamus et videamus quod factum est.

Das »Transeamus« ist pathetisch und weich zugleich, sein Bass ist großartig und seine Sopranstimmen klingen festlich und hell. Es ist nicht nur weihnachtsverdächtig, es verbreitet eine jubelnde Weihnachtsfreude, die länger nachhallt: Gloria in excelsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 15. November 2010

Breslauer Wollmarkt auf dem Alexanderplatz

Es war ein Schlüsselerlebnis, das mich zu dem Buch »Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren in Berlin« führte. Es begann mit einem harmlosen Touristenprogramm für Gäste aus Südwestdeutschland, die noch nie in Berlin gewesen waren. Reichstagskuppel, Brandenburger Tor, Museumsinsel, Fernsehturm, Alexanderplatz. Dort sprudelte der Neptunsbrunnen und die Kinder erfreuten sich am Meeresgetier, das den Netzen entwischt war. Vier Flussgöttinnen sorgten dafür, dass der Brunnen nicht versiegte. Ich hatte sie mir noch nie so ausführlich angeschaut und wusste sie nicht zu benennen. Der Reclamführer aus den siebziger Jahren gab Auskunft über die Ströme Preußens Ende des 19. Jahrhunderts: die Figur mit den Trauben solle den Rhein, die Figur mit den Ähren die Elbe, die Figur mit dem Holz (Flößer!) die Weichsel (!) und die Figur mit dem Ziegenfell die Oder darstellen, denn das Fell verweise auf den Breslauer Wollmarkt.

Da durchfuhr es mich. Eine Allegorie des Breslauer Wollmarkts sitzt mitten auf dem Alexanderplatz! Da schreibe ich Bücher über Breslau und zitiere darin Gedichte aus dem 16., 17., 18. Jahrhundert über den Breslauer Wollmarkt und weiß nicht, das seine Verkörperung Wasser in den Berliner Neptunsbrunnen gießt!

Das Gedicht über den Breslauer Wollmarkt von Johann Andreas Mauersperger aus der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts kam mir in den Sinn:

»Die große und kleine Waag ist auf dem Ringe,
Bey welcher der, der was zu wägen, sich findt ein.
Die ein hochedler Rat sich bestellt zur Waage
Sind mühsam, dieser steht und wiegt, was man gebracht,
Und jener merket auf, wieviel die Last betrage,
Ein anderer sieht, daß er die Zettel fertig macht.
Wenn man den Schafen hat ihr weiches Kleid genommen,
So findt der Adel sich mit Haufen in der Stadt.
Man sieht das Schäfervolk von allen Seiten kommen,
Daß lange Wolle Säck auf großen Wagen hatt.
Kann man die Wolle nicht alsbald zur Waage tragen,
So kürzt man sich die Zeit mit Bier und Branntewein. (..)«

Oder-Allegorie am Neptunbrunnen
am Alexanderplatz
Bei dem durch und durch schlichten Gedanken »hier sitzt ja ein Stück Breslau, ein Stück Schlesien mitten in Berlin!« wurde mir überraschend heimatlich zumute. Ich fing an zu suchen, meinend, dass das alles längst beschrieben wäre und nur ich nichts davon wüsste. Es gab und gibt ja alles über Berlin, Berlin zu allen Zeiten, das jüdische, hugenottische, russische, sogar das niederländische Berlin, Berlin bei Tag und bei Nacht, von oben und von unten, von hinten und von vorne. Bloß das schlesische Berlin war nicht dabei. Und so ging ich erst richtig auf die Suche.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 4. Oktober 2010

Neue Heimat

Was fragte neulich ein junger polnischer Wissenschaftler in Kreisau? Ob in Deutschland der schlesische, also der nieder- und mittelschlesische Dialekt noch viel gesprochen würde? Die Antwort, dass dieser Dialekt so gut wie ausgestorben sei, empfand er als traurig, »denn wir wollen doch wissen, wie die Leute, die früher hier gelebt haben, gesprochen haben.«

Die Breslauer Bürgerschaft als ganze entwickelt immer stärker einen Lokalpatriotismus, der der vergangenen Zeiten nicht nur eingedenk ist, sondern sie sogar als das Eigene einzugemeinden versteht. So waren neulich im Bremer Kunsthandel sehr wertvolle schlesische Silberschmiedearbeiten aus dem 17. Jahrhundert aufgetaucht. Der Breslauer Bürgermeister wollte sie erwerben, es fehlte ihm jedoch an Geld. Gerade die Hälfte konnte er zur Verfügung stellen. Dann startete er zusammen mit der Gazeta Wyborcza einen Aufruf an die Breslauer Bürgerschaft, an Firmen, Unternehmen, Einrichtungen und Privatpersonen, für den Erwerb des schlesischen Kunsthandwerks Gelder aufzubringen und zu sammeln. Tatsächlich bekamen sie die 1, 3 Millionen Euro zusammen, um die Kunstgegenstände erwerben zu können, um sie nun stolz in ihrem Stadtmuseum zu präsentieren, »denn sie gehören doch in unser Breslau.«

Gedenktafel für Max Herrmann-Neiße
am Berliner Kurfürstendamm
Foto: de.wikipedia.org
Junge Studenten interessieren sich für den so lange ausgesparten Hohlraum der deutschen Geschichte der Stadt und der Region Schlesien, sie unternehmen freiwillig im Sommer Exkursionen zu den Festungsbauten Friedrichs II., empfinden ein Gedicht von Max Herrmann-Neiße (aus dem schlesischen Neiße), »Breslauer Winternacht«, als das schönste Gedicht über Breslau, erobern sich ihre Stadt auf den Spuren Edith Steins, schlüpfen also sozusagen in die Rolle von Deutschen, die in der Vergangenheit herumsuchen, und werden dann auch passenderweise vor der Schule von Edith Stein von aus den Fenstern schauenden Anwohnern als »niemcy, niemcy!«, also als Deutsche tituliert. Sie freuen sich über einen literarisch gar nicht bedeutenden Text aus dem 19. Jahrhundert, der eine Gegend im Norden der Stadt als Verbrechergegend beschreibt, da sie feststellen, dass auch heute dieses Stadtviertel keinen guten Ruf hat. Ihre Freude gilt der Unverwüstlichkeit eines - wenn auch negativen - genius loci, der trotz Vertreibung und Neubesiedlung in der Stadt wirksam sein muss. Und ein polnischer Student, der in Breslau geboren ist und erst ganz normal, also ungebrochen, dort aufwuchs, erzählte, dass ihm im Alter von siebzehn Jahren die Stadt mit ihrer anderen Architektur und Geschichte plötzlich fremd wurde. Es habe erst des Oderhochwassers 1997 bedurft, dass er sich im Kontakt mit den Sandsäcken, den Steinen, dem Wasser, also durch eine Art haptischen Kontakt der Stadt vergewisserte und seither durch die konkrete Rettung der Stadt ein neues Heimatgefühl Breslau gegenüber verspüre. Ob durch die archäologische Rekonstruktion deutsch-antiker Schichten mittels des Kommissars Eberhard Mock, ob durch detektivische Stadtspaziergänge, ob durch den Erwerb schlesischer Kunstgegenstände oder durch den direkten Kontakt mit der städtischen Substanz beim Oderhochwasser - all diese Möglichkeiten dienen dazu, aus der fremden Stadt, der fremden Region eine vertraute Stadt, ein vertrautes Land zu machen, eine heimatliche Verwurzelung ohne Amputation und Amnesie.

Das ist ein emphatischer Begriff von Heimat. Der polnische Historiker und Kulturwissenschaftler Robert Traba hingegen verficht einen viel nüchterneren, wie er sagt moderneren Heimatbegriff. Seine Erfahrung von Heimat, allerdings nicht in Breslau, sondern im Masurischen, sei, dass verschiedene nationale bzw. ethnische Gruppen, die sich durch die Zeitläufte mehr oder weniger unfreiwillig in einer Region einfanden, die zusammengewürfelt sind, es miteinander aushalten müssen. Heimat ist für ihn ein Wohl-oder-übel-Gefühl, es ist das Zusammenfügen und halbwegs friedliche Zusammenleben von Heterogenem, so von Ukrainern, Masuren und Polen an einem Ort. Mehr, so meint Robert Traba nüchtern, kann man nach den Verwerfungen des 20. Jahrhunderts von Heimat nicht verlangen.

Montag, 27. September 2010

Polnische Archäologie: die deutsche Antike

Das ist in Polen ganz anders. Zwar war es während der Zeit des Sozialismus in Polen inopportun, ja verboten, öffentlich über die verlorenen polnischen Ostgebiete, also Städte wie Lemberg und Wilna, zu sprechen und vor allem ihren Verlust zu beklagen. Aber privat, in den Familien und unterschwelligen Gruppen, waren die Geschichten über den verlorenen polnischen Osten hoch im Kurs, und nicht nur die Geschichten, auch der Dialekt, das Essen, die Lieder, das von dort Mitgebrachte. Das Wachhalten der Erinnerung hatte etwas von Subversion, von nationalem Widerstand gegen ein aufoktroyiertes Regime, es war eine wirkungsmächtige Mischung aus Heroismus und melancholischer Empfindsamkeit.

Krajewski, Marek: Tod in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de
All das beeinflusste auch Marek Krajewski. 1966 in Breslau geboren, zählt er zur zweiten Generation der Vertriebenen, da seine Mutter, wie viele neue Bewohner Breslaus, aus Lemberg stammte. Krajewski ist klassischer Altertumsforscher, Altphilologe und gleichzeitig populärer Krimiautor. In den sechziger, siebziger Jahren im polnischen Breslau aufgewachsen konnte er vor Ort die nationalpolnischen Bemühungen beobachten, den urslawischen Urgrund Breslau durch archäologische Ausgrabungen und Neubewertungen auszuloten, um den neuen Herrschaftsanspruch über die »wiedergewonnenen Gebiete« nach 1945 zu untermauern. Möglicherweise hat ihn dies dazu angeregt, sich mit der noch älteren Archäologie, der klassischen Antike, beruflich zu befassen. Aber diese Beschäftigung führte unter Umständen zu weit weg von einer antiken Schicht Breslaus, die zwar schon entfernt genug war, also einen gewissen Mumifizierungs- und Petrifizierungsprozess durchlaufen hatte, aber doch noch anders unter den Nägeln brannte als die römischen Überreste oder das piastische Erbe: die archäologische Schicht des Deutschen in Breslau nämlich. Marek Krajewski rekonstruiert in seinen sehr populären Breslau-Krimis der letzten zehn Jahre das deutsche Breslau der zehner, zwanziger, dreißiger Jahre bis 1945. Er rekonstruiert es geradezu wissenschaftlich und quellenkundlich exakt anhand von alten Stadt- und Fahrplänen, sogar anhand von genau datierten Speisekarten bestimmter Lokale, Speisekarten, die dann in den Romanen an dem exakten Datum mit den exakten Gerichten eine Auferstehung feiern. Er entwirft die Figur eines nicht unsympathischen deutschen Kommissars, Eberhard Mock, ein Schlesier aus Waldenburg, der im Breslauer Rotlichtmilieu ermittelt. Was passiert hier? Krajewskis Familie war nach 1945 in eine mehr oder weniger von ihren angestammten Bewohnern entvölkerte Stadt gekommen, in eine fremde Stadt, in eine Stadt, deren Überlieferungen und Traditionen nicht die ihren waren. Dem Sohn genügten die angebotenen Identifikationsmöglichkeiten á la wiedergewonnene Gebiete, urslawischer Boden, piastisches Erbe, polnische Muttererde, Breslau als neues Lemberg irgendwann nicht mehr - wie vielen aufgeschlossenen Vertretern seiner Generation. Er wollte sich nicht mit der amputierten Erinnerung, mit der Gedächtnislosigkeit der Stadt Wrocław abspeisen lassen. Er merkte, dass es sich in diesen Regionen komplizierter mit der Identität verhält, dass der genius loci Breslaus eine größere Komplexität bereithält, die die deutsche Vergangenheit nicht außer Acht lassen darf. Und so begann er akribisch, genau und mit viel überschäumender Phantasie sich die jüngere deutsche Zeit zu erobern, sie zu rekonstruieren und sie gleichzeitig neu zu erfinden, um schließlich ein Konstrukt von Heimatgefühl dem neuen Breslau gegenüber zu entwickeln. Und dieses Heimatgefühl hat sich die Schicht der deutschen Antike sozusagen einverleibt, sich ihrer vergewissert, sie sich anverwandelt. Nur so entsteht ein komplexes Panorama der Stadt. Nur so entsteht eine runde Indentität ihrer Bewohner. Nun können sie ohne ängstliche Klitterung und mit größerer Offenheit zu neuen Niederschlesiern, zu neuen Breslauern werden.

Krajewski, Marek:
Gespenster in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de
Krajewski, Marek:
Der Kalenderblattmörder,
dtv Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Krajewski, Marek:
Pest in Breslau,
dtv Verlag 2009
Foto: © buchhandel.de