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Montag, 20. Dezember 2010

Schlesische Weißwürste

Schlesische Weißwürste waren das traditionelle Essen zu Heiligabend und Silvester in Schlesien. Sie bestehen aus Kalbfleisch, heute auch oft aus Schweinefleisch, sowie aus Schweinespeck, beide Bestandteile extrem fein unter Beigabe von Eis gekuttert, d. h. feiner als mit dem Fleischwolf zerkleinert. Entweder erhitzt man die Würste langsam im Wasser oder brät sie in Butter. Dieses typisch schlesische Heiligabendessen wird zusammen mit Kartoffeln oder Kartoffelbrei und Sauerkraut serviert.

In Berlin und Umgebung gibt es mehrere Fleischereien, die zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste anbieten, so die Neuland-Fleischerei Bachhuber, die Wurstabteilung des Kadewe und andere Fleischereien. Zum Beispiel die Fleischerei Grönke. Sie betreibt das Geschäft heute in dritter Generation, zog von der Bernauer Straße nach dem Zweiten Weltkrieg zum Prenzlauer Berg und von dort im Jahr 2004 nach Hohen Neuendorf ins nördliche Berliner Umland. Die Tradition, jährlich zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste herzustellen, etablierte sich schon vor etlichen Jahrzehnten. Da der Großvater des heutigen Betreibers aus Schlesien stammte, brachte er von dort das Rezept für die Würste mit. Diese werden hier aus Schweinefleisch unter Zusatz von frischem Zitronensaft und frischer Petersilie hergestellt. Ein Teil der Kunden kannte und kennt diese schlesische Weihnachtstradition aus eigener Erfahrung. Aber auch viele Berliner und Brandenburger, denen diese Würste zunächst fremd waren, kauften sie aus Neugierde. Da sie großen Anklang finden, müssen die Würste zur Weihnachtszeit immer vorbestellt werden und sind schnell ausverkauft. Ein Bekannter des Fleischers schlug aufgrund der Beliebtheit der Würste einmal vor, diese immer im Angebot zu führen. Diesen Wunsch musste der Fleischer ihm aber abschlagen: »Nein, schlesische Weißwürste gibt es nur zu Weihnachten. Das ist und bleibt etwas ganz Besonderes.«

Die Fleischerei Ullrich in Tempelhof, ein Familienbetrieb, bietet seit 1967 ganzjährig schlesische Wurstwaren an. Sie führt ständig vier bis fünf verschiedene schlesische Wurstsorten, so u. a. schlesische Wellwurst, schlesische Schinkenkrakauer, Breslauer, und zur Weihnachtszeit natürlich auch schlesische Weißwurst, aus Kalbfleisch hergestellt und mit Zitrone und Petersilie verfeinert. Eigene familiäre Bezüge des heutigen Fleischermeisters zu Schlesien gibt es nicht. Sein Vater hatte jedoch in Wittenberg bei einem schlesischen Fleischer gelernt und danach in verschiedenen Berliner Fleischereien gearbeitet, die von Schlesiern betrieben wurden. Erst dann machte der Vater sich selbstständig und nutzte sein schlesisches Fachwissen, um seinem Geschäft diese besondere Ausrichtung zu geben. Der Sohn führt die Tradition fort. Viele Kunden, die schlesische Wurzeln haben, kaufen bei ihm. Hin und wieder belieferte die Fleischerei Treffen des Schlesierverbandes im Deutschlandhaus mit Wellwurst und anderen schlesischen Spezialitäten. Ein zusätzlicher Wurststand in der Arminius-Markthalle führte zu einer großen Beliebtheit der schlesischen Wurstwaren auch in Berlin-Moabit.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die schlesischen Blut- und Leberwürste mit dem dazugehörigen Sauerkraut. Die Fleischerei erhielt schon etliche bundesweite Auszeichnungen, vor allem für ihre schlesischen Wurstwaren, mehrfach hintereinander wurde ihr sogar der Titel »Berliner Bratwurstmeister« verliehen. Was sagte mir der Fleischermeister? Nach dem Krieg seien ja fast zwei Drittel aller Berliner Fleischer Schlesier gewesen. Und, wie es unter Fleischern hieß: »Jeder gute Berliner Fleischer kommt aus Schlesien.«

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Mohn

Die Bäckerei Hutzelmann in Charlottenburg nennt sich »Schlesische Backstube«. Seit den zwanziger Jahren in Familienbesitz, existiert der Laden in der Wilmersdorfer Straße seit 1957. Der Großvater der heutigen Bäckerin kommt aus der Oppelner Gegend und hat von dort die schlesischen Backrezepte mitgebracht. Die Bäckerei bietet verschiedene Mohnkuchen, preisgekrönte Mohnstollen, Liegnitzer Bomben, schlesischen Butterstreußel in mehreren Variationen und schlesische Quarkpiroggen an. Überhaupt wird viel mit Hefe gebacken. Die Kunden sind zum Teil Berliner Anwohner, zum Teil kommen sie auch von weiter her gezielt in diese Bäckerei, weil sie schlesische Wurzeln oder eine besondere Vorliebe für schlesisches Backwerk haben. Bis in die achtziger Jahre hinein, so erzählt die Bäckerin, sei der Satz »Jeder gute Berliner Bäcker kommt aus Schlesien« zu Recht im Umlauf gewesen. Nun seien sie die einzige Backstube dieser Art in Berlin. Zu ihrer großen Freude habe sie eine Bezugsquelle für Mohn aus der Umgebung von Breslau aufgetan, wo es den guten Blaumohn gibt, der dann in der Backstube nach traditionellem Verfahren lange in einem großen Kessel gebrüht wird. Man schmeckt es.

Mohnklöße bilden zum traditionellen schlesischen Weihnachts- und Silvesteressen den Nachtisch. Sie bestehen aus Mohn, eingeweichten Brötchen, Mandeln und Rosinen in süßer Milch. Ein Schuss Rum nimmt dem Gericht das Klebrige und macht es pfiffiger. Dem berühmten, aus Breslau stammenden Theaterkritiker Alfred Kerr, der 1887 von Schlesien nach Berlin ging und sich dort wie ein Fisch im Wasser tummelte, fehlten in der deutschen Hauptstadt zu seinem Vollglück nur zwei Dinge, derer er sich mit Wehmut erinnert: Bauerbissen, also eine Art großer Pfefferkuchen, und schlesische Mohnklöße:
»Bauerbissen, sicher der erdgerüchigste aller Pfefferkuchen, den man in Schlesien für einen Sechser pfundweise fröhlich aß, er lässt sich nicht aus der Erde stampfen. Verschollen sind die Tage, wo uns die Kinnbacken schmerzten, vom vielen Kauen des frischen, weichen Zeugs. Bauerbissen, du bist ein Mythus, du lächelst herüber aus der Geisterwelt, grüßend und dich neigend und einsam verschwindend. Bauerbissen, du bist die Vergänglichkeit. Bauerbissen, du bist die Ahnung des ersten grauen Haars. Bauerbissen, nie werde ich dich wieder so fressen (es muss heraus, das schändliche Wort) wie einst im Dezember. Bauerbissen, was hier unter deinem Namen verschleißt wird, ist altes Leder. Die Zähne bricht man sich aus; und es schmeckt nach Wichse.«

Gedenktafel für Alfred Kerr am Haus
Höhmannstraße 6 in Berlin-Grunewald
Und auch der Vergleich der schlesischen Mohnklöße mit den Berliner Mohnpielen fällt für letztere verheerend aus:
»Und auch ihr, meine lieben Mohnklöße, seid eine Melancholie, ein Märchen aus alten Zeiten. Ihr seid versunkene Kränze. Semmel im Wasser mit schwarzem Mohn und Vanille, darin liegt eure Größe. Hier nennt man euch – uäh, uäh! – Mohnpielen. Das ist die gemengte Speise aus süßlichem Rosenwasser, mit kleinen glitschigen Würfelchen und weißem fadem Mohn und etwas Zucker, und schmeckt nach nichts. [..] Mohnklöße meiner Jugend, lebt wohl. Zieht hinab den leuchtenden Strom der Vergänglichkeit, in die Dämmerung, in die seltsam dunkle Ferne, wo die große Stille herrscht.« (Alfred Kerr, Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole, S.153f.)

Auch bei Fontane spielen Mohnpielen eine Rolle, in seinem Romanerstling Vor dem Sturm nämlich, und auch hier ist die Rolle fragwürdig. In dem Kapitel »Bei Frau Hulen« (3. Band, 4. Kapitel) lädt Frau Hulen, die Berliner Zimmerwirtin des adligen Protagonisten, Gäste ein und bewirtet sie mit etlichen Gerichten. Mohnpielen, »auf dem Mohn eine dichte Lage von gestoßenem Zimt«, werden hier als erster Gang gereicht. Die ganze Szene ist als Zerrspiegelung des Gesellschaftslebens der großen Welt auf Kleinbürgerniveau angelegt. Gespräche misslingen, Eitelkeiten werden verletzt, Bildungsgehabe misstrauisch beäugt. Es ist ein Kabinettstückchen der Abgrenzung von millimeterfeinen Standesunterschieden. Zum Schluss ist nur Frau Hulen restlos zufrieden. Alle anderen Gäste streben auf der Straße auseinander und versichern sich ehepaarweise, das man dort nicht mehr hingehen könne. Und ein besonders triftiges Argument dabei lautet:
»Die Hulen ist eine gute Frau, aber was waren das für Pilen? Semmelstücke, und das bißchen Mohn kratzig und multrig.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Schlesisches Himmelreich

Beim Essen hört die Antike auf. Die Welt ist groß und jetztzeitig, und fast ebenso groß ist die Auswahl an verschiedenen Restaurants und Küchen in Berlin. Je nach Mode boomen eine Weile lang die mexikanischen Restaurants, werden von japanischen abgelöst und diese dann wieder von den thailändischen und den indischen, bis sich alles auf ein normales Maß zurechtegrüttelt hat und mehr oder weniger freundlich koexistiert. Persische Restaurants liegen neben afrikanischen, nepalesische Restaurants neben russischen. Boomt eine Zeitlang das Niegehörte, Niegesehene, Niegegessene, Krokodil und Känguruh oder echte chinesische Küche für Chinesen mit seltsamen Eingeweide und undefinierbaren Zutaten, so gibt es gleichzeitig auch wieder einen Hang, ja fast einen Drang zur traditionellen, bodenständigen, regionalen Küche, zur bayrischen, zur schwäbischen, zur österreichischen und sogar zur böhmischen Küche, wie sie ja heute in Böhmen, in Prag immer noch lebendig ist. Lateinische Küche aber gibt es nicht. Ebenso sucht man schlesische Restaurants im Berliner Stadtbild vergeblich, fast scheint die Küche, wie der niederschlesische Dialekt, ausgestorben zu sein. In Breslau, in Mittel- und Niederschlesien sind mir keine Restaurants begegnet, die die deutsche Küche pflegen. Am Breslauer Ring wird dagegen das Restaurant Karczma Lwowska betrieben, das mit altpolnisch-lemberger Küche aufwartet. Nur in Görlitz, nach der Wende plötzlich der letzte deutsche Zipfel Niederschlesiens, hat man die kulinarischen Traditionen Schlesiens wiederbelebt. Dort gibt es mit einem Mal in einigen Restaurants Schlesisches Himmelreich und schlesische Linsensuppe mit einer Kelle heißen Sauerkrauts in der Tellermitte, in etlichen Bäckereien viel typisches Mohngebäck und schlesischen Sträßelkuchen. Hier scheint also (noch? wieder?) eine Tradition lebendig zu sein.

Die ganze Zeit schon möchte der Berliner Restaurantkenner ungeduldig widersprechen. Natürlich gibt es in Berlin schlesische Restaurants. Das Restaurant Kolk in Spandau zum Beispiel, das seit 1989 Spezialitäten aus Schlesien, Ostpreußen und Berlin anbietet, nach eigener Aussage deswegen, weil die Vorfahren der heutigen Restaurantbesitzer teils aus Schlesien und teils aus Ostpreußen stammen. Hier gibt es die oft süß-saure schlesische Küche, hier gibt es zum Nachtisch schlesische Mohnklöße. Hier kann man wohlschmeckende und gehaltvolle Gerichte bekommen, die auf diese Weise vorm Aussterben bewahrt werden.

Weitere Restaurants in Berlin, die schlesisch in ihrem Namen trugen, das deutsch-schlesische Restaurant Gourmand-Smakosz in Moabit, Kochs Brunnen Gasthaus mit polnisch-schlesisch-deutscher Küche am Prenzlauer Berg sind kürzlich eingegangen. Aber das schlesisch-böhmische Restaurant Duett in Steglitz und das schlesische Restaurant Chopin am Wannsee erfreuen sich größerer Beliebtheit. Letzteres bezieht sich kulinarisch sowohl auf die deutsche mittel-niederschlesische als auch auf die polnisch-oberschlesische Küche, in der Pirogen, Barczsz, Bigos und Żurek (Sauerteigsuppe) angeboten wird. Mein Vater erzählte, dass eine Kolumne, die er in der Zeit um 1930 im oberschlesischen Lokalblättchen gerne gelesen habe, den Titel trug »Wo der Żur dampft«, was so viel bedeutete: wo man gemütlich beisammen sitzt und die neuesten Geschichten erzählt. In diesem Restaurant dampft sicherlich der Żur, wahrscheinlich sogar der Żurek królewski, der Königs-Żur. Und nicht nur dass hier das Schlesische Himmelreich, die schlesische Bouillon mit Fadennudeln, der Sauerbraten und die schlesischen Mohnpielen vorm Aussterben bewahrt werden, ist erwähnenswert, sondern dass zur Weihnachtszeit polnische Gänse mit einer Rosinen-Mandelsoße und Klößen von den polnischen Restaurantbetreibern in ein typisch schlesisches Gericht verwandelt werden.

Auch das Restaurant Schlesisch Blau in Kreuzberg wird übrigens sehr gelobt. Aber der Name lockt auf eine falsche Fährte. Die Küche ist rein französisch und der Name rührt lediglich von seiner Lage her: der Nähe zum Schlesischen Tor.

Fortsetzung am kommenden Montag.