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Montag, 25. Oktober 2010

Vexierbilder

Beispiel sieben: Ein Lehrer, Ende der fünfziger Jahre im Ruhrgebiet geboren, beide Eltern aus Schlesien stammend, lebt heute in Hessen. Sein Interesse an Schlesien und den östlichen Regionen war bislang gering. Auf die Frage nach Heimat antwortet er, dass es auf keinen Fall Hessen und natürlich auch auf keinen Fall Schlesien, wo er noch nie war, sei. Am ehesten noch das Ruhrgebiet seiner frühen Kindheit, obwohl er auch da immer das Gefühl gehabt habe, nicht hundertprozentig dazuzugehören. Dennoch sei das die Gegend, die ihn, wenn überhaupt, am heimatlichsten berühren würde, da er dort das Gefühl hätte, sich auszukennen und "am leichtesten durchzukommen".

Beispiel acht: Ein Übersetzer und Lyriker, Anfang der fünfziger Jahre in Westfalen geboren, ein Elternteil aus Ostpreußen stammend, hat wenig Bezug zu seinem westfälischen Geburtsort. Eher noch bezeichnet er das ostpreußische Dorf seiner Mutter als seine Heimat. Er lebt in Berlin und begründet die Wahl seines Wohnorts damit, dass Berlin die östlichste Stadt in Deutschland ist und er daher dort der Heimat seiner Mutter am Nächsten sei. Er spricht über die "Ungewissheit einer Heimat" und gibt sein Heimatgefühl als ein gebrochenes an. Nach langem Nachdenken kommt er zum Schluss, dass er sich auf keinen Fall als Westfale, sondern als Ostpreuße fühle, ja, dass er Ostpreuße sei.

Vexieren heißt quälen. Was geschieht Kindern, die derartig, also weit über das normale Maß hinaus, mit Projektionen, Sehnsüchten, Übertragungen, Verlusterfahrungen, Träumen und Schmerzen ihrer Eltern beladen werden? Bei einer gewisen Sensibilität erachten sie ihre eigene Kindheit für viel weniger bedeutend als all die Geschichten, die sie immer wieder mythengleich hören, die schwerer wiegen, die gewichtiger sind. Das ist keine absichtliche Quälerei, keine Boshaftigkeit. Im Gegenteil. Die Eltern wollen ihren Kindern etwas von sich, von ihrem verlustreichen, verlustgeprägten Leben mitgeben, sie wollen, dass das Verlorene weiterlebt. Die beiden Extreme, die sich daraus entwickeln können, lauten: entweder wollen die erwachsenen Kinder gar nichts mehr davon wissen, oder sie wollen nur noch davon wissen, eins so schwierig, so quälend, wie das andere.


Seit den neunziger Jahren erstreckt sich die Traumaforschung in der Psychologie zunehmend auch auf die Erlebnisse und Erfahrungen der Vertriebenen und ihrer Kinder. Psychische Störungen (das sogenannte posttraumatische Belastungssyndrom), Krankheiten, Depressionen und allgemeine Lebensprobleme werden mit diesen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Publikationen von Helga Hirsch, "Schweres Gepäck" (2004), oder von Astrid von Friesen, "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener" (2000). Diese Ansätze sind gerechtfertigt und sinnvoll. Und doch sollte hier an dieser Stelle keine Syptomerforschung im Vordergrund stehen, sondern eher einfach danach gefragt werden, wie es Vertriebenen und ihren Nachfahren gelingt, den Heimatverlust auszuhalten, wie sie darauf reagieren, welche manchmal sehr verschlungenen Wege sie gehen, den Verlust zu überwinden oder zumindest zu lindern. Und, wenn sie sich selbst für heimatlos halten, wie sie diese schonungslose Diagnose aushalten können, ja, ob sie es vielleicht sogar schaffen, sie produktiv umzumünzen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.