Wie verhält es sich nun mit der zweiten Generation der deutschen Vertriebenen? Auch hier sind die Möglichkeiten, sich gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils zu verhalten, sehr unterschiedlich.
Beispiel eins: Ein Jurist mit einem Elternteil aus Schlesien und ein Ingenieur, dessen Eltern beide aus Schlesien stammten, beide um 1960 im Rheinland geboren, reagieren durch Überassimilation auf ihre neuen Wohnorte, der eine weiterhin im Rheinland, der andere im Badischen. Ihr Verhalten zeichnet sich durch Übersprungshandlungen aus. So übernehmen sie den lokalen Dialekt, den sie von ihren Eltern nie gehört haben, und die Lebensgewohnheiten der Region. Sie treten in Vereine ein und mutieren zum Superkölner bzw. zum Superbaden. Sie haben keinerlei Bezug zur Herkunft der Eltern oder Elternteile. Schon die östliche Lage Berlins wirkt auf sie beunruhigend, und alles, was östlich von Berlin liegt, geradezu bedrohlich. Sie bemühen sich stark um eine für sie neue, westlich ausgerichtete landmannschaftliche Prägung, da ja für die meisten Deutschen der Bezug zur Region und das Gefühl, dazuzugehören sehr wichtig ist. Sie wollen auch von "do" sein, sich heimatlich fühlen, so, als wären sie schon ganz lange da.
Heimat - ist dieser Begriff überhaupt zulässig? Ist er nicht zu antiquiert, zu verstaubt, zu ungut, zu belastet? Sollte man gerade heutzutage - Globalisierung! - nicht nüchterner über diese Dinge, die Herkunft, die Zugehörigkeiten sprechen? Es scheint aber doch so, dass die meisten Menschen traditioneller, beharrender, bewahrender veranlagt sind. Uwe Johnson spricht in seinen Jahrestagen vom "Weltdorf New York". Und schon im Faust weiß Mephisto: "Es ist doch lange hergebracht, daß in der großen Welt man kleine Welten macht." Anscheinend sehnen sich die Menschen neben ihrer ganzen weltweiten Offenheit auch immer wieder nach überschaubareren Einheiten und Gebilden, nach Eintauchen in die warme Badewanne des Bekannten. Interessant ist es zu beobachten, dass in den letzten Jahren immer wieder Romane auf den Buchmarkt kommen, deren Untertitel "Heimatroman" lauten (Gert Jonke, Jens Sparschuh, Andreas Maier u. a.), die selbst in ihrer ironischen Gebrochenheit und Reflektiertheit auf ein Heimatgefühl verweisen. Die kühlsten, nüchternsten und analytischsten Menschen werden bei der Frage nach ihrer Heimat weich. Die wenigsten weisen eine solche Frage schroff zurück.
Beispiel zwei: Ein Liedermacher mit einem Elterteil aus Schlesien, um 1950 in Berlin geboren und aufgewachsen. Er zählt sich dem linksliberalen Milieu in Folge der Studentenbewegung zu. Die Vertriebenenthematik beäugt er skeptisch bis misstrauisch. Seit einiger Zeit begeistert er sich für Osteuropa. Er reist nach Polen und in die Ukraine. Als er in einem Huzulenhaus in den Bergen sitzt und dort die Trachten der westukrainischen Huzulen, der Bewohner der Karpaten, betrachtet, erinnert er sich plötzlich beim Bloggen unwillkürlich an die Trachten seiner schlesischen Mutter und an ihre Trauer, dass in Bayern niemand mehr ihre schlesischen Trachten sehen, geschweige denn tragen wollte, und dass die Nachfahren die schlesischen Bräuche nicht pflegten. Erst in der unverfänglich scheinenden Fremde ist es ihm möglich, etwas Unterdrücktes, etwas Abgewehrtes zuzulassen.
Fortsetzung am kommenden Donnerstag.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen