Donnerstag, 11. November 2010

Selbstauskunft

Warum geht jemand, der am Rande des Ruhrgebiets geboren und aufgewachsen ist, der nicht von westfälischen, sondern von schlesischen Eltern abstammt, mit neunzehn Jahren nach Berlin? Und nicht in das Berlin von heute, sondern in das marode, geteilte Westberlin der beginnenden achtziger Jahre? Was konnte daran anziehend sein? Es waren wohl die zerschossenen Häuser und Kriegsruinen, die noch sichtbar waren, die Ruine des Anhalter Bahnhofs mit dem riesigen überwucherten Gleisareal, die Namen schlesischer Orte auf angerosteten Straßenschildern, das schlesische Tor, die ganze mangelnde Geschichtsvergessenheit, die einen starken Zauber ausübten, viel stärker als die Jetztzeit der Kreuzberger Nächte um 1980 es je vermocht hätte. In beiden Teilen der Stadt, in Westberlin und Ostberlin, war die unfreiwillige Konservierung der jüngeren katastrophischen Geschichte allgegenwärtig. Die Stadt war wohltuend unbequem, sperrig, anachronistisch, kein Vergleich zu den glatten Fassaden hysterischer Geschichtsauslöschung so mancher westdeutschen Stadt. In Berlin schien etwas zu warten, etwas Unerledigtes, die Geschichte zum Greifen nah, der abgetrennte Osten wenigstens noch schemenhaft präsent.

So kam es, dass die Stadt mich wie ein Magnetberg anzog, mich fesselte, ohne dass ich genau hätte sagen können warum, mich in ihren Bann zog. Ich tat merkwürdige Dinge zu Beginn der achtziger Jahre. In der frühen Dämmerung eines Winternachmittags begab ich mich zur Ruine des Anhalter Bahnhofs, umkreiste sie und tauchte dann in das dahinterliegende Gleisareal ein, das verödet und überwuchert da lag. Unter der winterlich abgestorbenen Vegetation fand ich alte verrostete Gleise, Schienenstränge mit Holzschwellen. Ich wusste nichts. Ich wusste nur, dass mein Vater während des Zweiten Weltkriegs hier mehrfach angekommen und abgefahren sein musste. Vielleicht von und nach Schlesien? Nichts wusste ich. Aber es reichte aus, um in der Dunkelheit eine geschichtliche Aura über die Brache zu wölben. Ich bückte mich und brach ein Stückchen morschen Schwellenholzes ab. In Erwartung verschwörerischen Einverständnisses überreichte ich es meinem Vater zu Weihnachten. Er aber schaute mich verständnislos an und ließ es liegen.

Das ist lange her. Die Stadt hat sich gewandelt. Das mit jüngerer Geschichte gesättigte Vakuum ist nach der Wende belüftet worden. Die Stadt ist damit beschäftigt, ihre Ecken und Kanten abzuschmirgeln, die historischen Verwerfungen zu zähmen, zur Beruhigung allerorten harmlose Bären und lustige Schilder aufzustellen, auf denen im Triumph der Paradoxie steht, wie man zu sein hat, um Berlin zu sein, Wandel und man selber, anders und sexy, arm oder exzentrisch oder so wie alle. Jeder kann sich, je nach Neigung, neue Schilder ausdenken, womöglich »Sei Schloss. Sei Brache. Sei Berlin«. Kaum aber vorstellbar wäre folgender Slogan: »Sei Schlesien. Sei Pommern. Sei Berlin.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 8. November 2010

Nesthäkchen zieht von Schlesien nach Bayern

Ury, Else: Nesthäkchen und ihre Puppen,
Schutzumschlag von Franz Kuderna
der Ausgabe von 1913
Foto: © de.wikipedia.org
Aber nicht nur in den heutigen Zeiten politischer Korrektheit und vorauseilenden Gehorsams werden Hinweise auf den deutschen Osten aus dem öffentlichen Bewusstsein in Deutschland eliminiert, sondern dies geschah bereits in den fünfziger Jahren. Ein sprechendes Beispiel ist dabei die populäre Nesthäkchen-Reihe von Else Ury. Hier zeigt sich der allgemeine Drang nach dem Zweiten Weltkrieg, die unliebsamen Ostbezüge, die der neuen Westorientierung nur hinderlich gewesen wären, hinter sich lassen zu können. Spielen die ersten, in den zehner und zwanziger Jahren verfassten Bände in Berlin, aber auch bei bäuerlichen Verwandten auf Gut Arnsdorf in Schlesien, so sind diese Verwandten in der Neuauflage aus den fünfziger Jahren mit einem Mal angestammte Niederbayern.

Nesthäkchens Freundin, die in der Originalausgabe aus Breslau stammt, stammt nach 1945 aus München (Bd. 3, Nesthäkchen im Kinderheim). Besonders aufschlussreich ist Band 5, Nesthäkchens Backfischzeit: im Original verbringt Nesthäkchen ihre Sommerferien wieder im schlesischen Arnsdorf. Wegen der polnischen Aufstände in Oberschlesien 1919/20 muss sie übereilt in Richtung Berlin abreisen, bleibt aber aufgrund eines Eisenbahnerstreiks im schlesischen Sagan liegen, wo sie sich alleine durchschlagen muss. Diese historische Dimension wird nach 1945 getilgt: dort ist Nesthäkchen bei ihren niederbayrischen Verwandten zu Gast (bei denen seltsamerweise - es spielt ja immer noch 1919/20 - ein schlesisch sprechender Knecht auftaucht, der vermutlich bei der Neubearbeitung übersehen wurde), reist nach Berlin ab und bleibt wegen eines allgemeinen Generalstreiks in Nürnberg liegen. Auch in Band 9, Nesthäkchen und ihre Enkel, stammt im Original ein verwaistes Mädchen in Südamerika von schlesischen Auswanderern ab, die in den fünfziger Jahren zu Westfalen mutiert sind. Lediglich in Band 2, Nesthäkchens erstes Schuljahr, wird nach 1945 das Ferienziel, das schlesische Riesengebirge, nicht geändert - Hinweis vielleicht auf die übermächtige Bekanntheit dieses Gebirges mit dem Hauptgipfel der Schneekoppe, das, anders als Sagan beispielsweise, nicht mit Amnesie belegt werden konnte und sollte.
Firmenlogo der Schneekoppe
von 1965 bis 1978
Foto: © www.schneekoppe.de
An dieser Stelle ist auch der Firmenname von Diabetikerprodukten, Schneekoppe von Interesse: tatsächlich auf der Sammlung von Heilpflanzen im Riesengebirge der zwanziger Jahre beruhend, wählte die nach Westen vertriebene Heilkräuterkundigenfamilie bewusst den Namen Schneekoppe als Firmenemblem, um auf den Ursprung ihrer Tätigkeit und gleichzeitig auf ihre verlorene Heimat hinzuweisen.

Aber das sind Ausnahmen. In den meisten Fällen wurden die erinnernden Hinweise an die Ostgebiete verunmöglicht. Für die zweite Generation der Vertriebenen führte das zu einem starken Gefühl der Unwirklichkeit all ihrer mythologischen Stoffe, die nun keinerlei Realitätsbezug mehr hatten. Bei den heute Vierzig- bis Sechzigjährigen (und bei den Jüngeren ohnehin), die nicht familiär betroffen sind und waren, führte die Auslöschung von Erinnerung zu einer extremen Unkenntnis. Kein Verlust schmerzt sie, weil sie noch nicht einmal von dem Verlorenen etwas wissen. Für diejenigen Polen, die sich mit der deutschen und preußischen Geschichte in den heute polnischen Woiwodschaften Śląsk (Schlesien), Warmia i Mazurskii (Ermland und Masuren), Pomorski (Pommern) beschäftigen, ist diese Ignoranz vollkommen unverständlich, ja, sie sind jedes Mal zutiefst schockiert und verunsichert, wenn ihnen etliche Deutsche, durchaus auch Intellektuelle, mit Unkenntnis und Desinteresse begegnen. Wie klagte neulich ein polnischer Kunsthistoriker aus Breslau verzweifelt? Die Deutschen, auch Kollegen, wüssten nichts, so, als begänne östlich der Oder eine gelbe Wüste, als befände sich dort nichts mehr oder höchstens, nach Taiga und Tundra, das Eismeer in ewigem Winter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 4. November 2010

Amnesien

Kossert, Andreas: Kalte Heimat,
WJ Siedler Verlag 2008
Foto: © buchhandel.de
Nach 1945 wurde Deutschland neu aufgeteilt. Zu dieser Aufteilung gehörte auch ein neuer Blick auf die abgetrennten deutschen Ostgebiete. In der SBZ und in der DDR sollte die Erinnerung an Schlesien, Pommern und Ostpreußen möglichst schnell aus dem öffentlichen Gedächtnis verschwinden. In den Westsektoren ging man zunächst nicht ganz so rabiat vor. Vertriebenenorganisationen und -treffen wurden zugelassen, Denk- und Mahnmale in vielen Städten erinnerten an die Ostgebiete, Schulen konnten in Schlesienschule, Versammlungssäle in Pommernsaal umbenannt werden. Es gab den »Bund der Heimatvertriebenen und Entrechteten« als eigene Partei. Ab den siebziger Jahren jedoch ließ diese sowieso schon brüchig gewordene Erinnerungskultur stark nach. Mahnmale wurden wieder abgebaut, und von offiziellen Seiten, von Parteien und Verbänden wurden und werden letzte Erinnerungsreste an den ehemaligen deutschen Osten der Amnesie anheimgegeben. Ein jüngeres Beispiel stellt die Umbennenung der Schlesien-Schule in Berlin-Charlottenburg im Jahr 2004 dar, wie es Andreas Kossert in seinem Buch Kalte Heimat beschreibt: argumentierten CDU und FDP, dass »Schlesien für einen Teil deutscher und europäischer Geschichte stehe, für den sich niemand zu schämen habe«, so konterte die SPD, »der Name Schlesien könne zu Missverständnissen nicht nur bei unseren polnischen Nachbarn führen [...], die Schule müsse sich von allen restaurativen Interessen distanzieren.« Schlug die CDU der Schulleitung vor, Kontakt zu einer polnischen Schule aufzunehmen, so begründete der Schulleiter schließlich die Entscheidung für die Umbenennung damit, dass »im Zuge der deutschen Wiedervereinigung jegliche Ansprüche auf die ehemaligen Ostgebiete ad acta gelegt worden seien« und: »Keiner unserer Schüler hat einen Bezug zu Schlesien« - »eine Aussage«, so Kossert, »die einer gründlichen Prüfung wahrscheinlich nicht standhalten würde.« (Kossert, Kalte Heimat, München 2008, S. 191 f.)

Ebenso sollte auf Antrag von Grünen und SPD der Breslauer Platz in Köln zu Beginn der neunziger Jahre in Willy-Brandt-Platz umbenannt werden. Jedoch blieb der Name Breslauer Platz aufgrund von Protesten aus der Stadtbevölkerung, einer Mischung aus Ur-Kölnern und Schlesiern, erhalten.

Es ist wohltuend zu beobachten, wie entspannt polnische Studenten mit den deutschen Namen aus Schlesien umgehen können. So freute sich eine Gruppe polnischer Germanistikstudenten, die vom Haus Schlesien in Königswinter zu einer Tagung eingeladen waren, über die Bezeichnung der Zimmer nach deutschen Städtenamen aus Schlesien. Sie waren sehr zufrieden mit den Zimmernamen Glogau und Bunzlau in Haus Breslau, mit den Zimmern Ratibor und Bolkenhain in Haus Oder, mit Neurode und Bad Reinerz in Haus Grafschaft Glatz. Da sie aber aus Wrocław kamen, hätten sie natürlich alle am liebsten das Zimmer Breslau im Haus Riesengebirge bewohnt.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 1. November 2010

Heimatverbot

Ein prominenter wie auch besonders radikaler Vertreter der Heimatproblematik ist der Schriftsteller Franz Fühmann. 1922 in Rochlitz (Rokytnice) im böhmischen Riesengebirge geboren, ging er in Wien und Reichenberg (Liberec) zur Schule, machte in Hohenelbe (Vrchlabí) Abitur und lebte und arbeitete nach sowjetischer Kriegsgefangenschaft seit 1949 in der DDR, in Märkisch-Buchholz bei Berlin. Zwei Jahre vor seinem Tod im Jahre 1984 reflektierte er über seine Herkunft in einem öffentlichen Gespräch mit Winfried F. Schoeller:

Fühmann: »Zu den Gründen, warum mich diese Landschaft (das Bergwerk) so fasziniert, kommt hinzu: Ich habe ja meine angestammte, urpoetische Heimat Böhmen verleugnet wie Petrus den Herrn, wenn auch aus ehrsamen Motiven. Ich wollte nicht ins gleiche Boot kommen mit diesen Trachtenpflegern und Heimatvereinen. Ich habe mir gesagt: das ist aus und vorbei, die Umsiedlung ist geschehen, ich habe die Heimat gewaltsam getilgt. In den ›zweiundzwanzig Tagen‹ habe ich in einem kleinen Abschnitt darüber geschrieben. Johannes Bobrowski machte das mit seiner litauischen Heimat nicht. Er hat seine Landschaft hinübergerettet und bewahrt.«

Schoeller: »Sie haben sich in die historische Einsicht, daß dieses Problem der Heimatvertriebenen erledigt ist, gefügt und deshalb nicht über Böhmen geschrieben?«

Fühmann: »Ich habe sogar noch etwas mehr gemacht: ich habe sie getötet. [...] Das ist ein Problem. Man kann sich die Heimat doch so verleiden, daß man sie für sich tötet. [...] Ich habe mir die Heimat richtig verboten: Du treibst dich jetzt nicht auf den Bergen herum! Ich habe versucht, der märkischen Landschaft etwas abzugewinnen, was nicht geht. Ich bin kein Märker, nicht dort aufgewachsen.

Dieses Heimatverbot war sicher eine Komponente mit, daß mir die Lyrik abgestorben ist - nicht die wesentliche, aber doch eine. Nun entdecke ich das Gebirge gewissenmaßen nach unten geklappt und krieche dort herum.«

(Franz Fühmann: Den Katzenartigen wollten wir verbrennen. Ein Lesebuch, Hamburg 1983, S. 378 f.)



Fühmann, Franz:
Zweiundzwanzig Tage oder
die Hälfte des Lebens
,
Hinstorff Verlag 1999
Foto: © buchhandel.de
Gerade gegen Ende seines Lebens übte der Topos des Bergwerks eine starke Anziehungskraft auf Fühmann aus. Das Bergwerk mit seinen unterirdischen Verästelungen wurde für ihn zu einem Sinnbild für die Auffindung, das Aufspüren verschiedenster Bezüge und Bindungen, die in seinem Leben bedeutungsvoll waren. Der Auszug aus den Zweiundzwanzig Tagen, auf die Fühmann in dem obigen Zitat anspielt, räumt sein spätes Bedauern über die Radikalität ein, sich die Heimat verboten zu haben, eine Härte, die sich zerstörerisch auf sein lyrisches Schaffen ausgewirkt hat:

»Ich muß gestehen, daß ich anfangs seiner (Bobrowskis) Lyrik schroff ablehnend gegenüber stand, ja in ihr etwas Unerlaubes gesehen habe: das Wachhalten, vielleicht sogar Wiedererwecken von Gefühlen, die aussterben mußten, Sentiments der Erinnerung an die Nebelmorgen hinter der Weichsel und den süßen Ruf des Vogels Pirol... Ich hatte wohl eine ehrenhafte, aber sehr enge Auffassung vom Bewältigen der Vergangenheit, und ich bin dem eigenen Lied auf die Kehle getreten. Doch aus der Geschichte läßt sich nichts tilgen, kein einziger Aspekt und kein einziges Gefühl [...]. Nicht ein ›Es war nie gewesen‹ und auch nicht ›Als ob es nie gewesen wäre‹, sondern nur ›Es war so und ist vorbei‹ ist der sichere Grund, ein Neues zu bauen.«

(Franz Fühmann: Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens, Rostock 1973, S. 139)

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 28. Oktober 2010

Heimatlos

Elliger, Katharina:
Und tief in der Seele das Ferne,
Rowohlt Taschenbuch Verlag 2004
Foto: © buchhandel.de
Katharina Elliger, Studienrätin und Verfasserin des Buches Und tief in der Seele das Ferne (2004), beschreibt ihre Erinnerungen an Flucht und Vertreibung aus Niederschlesien als vierzehnjähriges Mädchen. Ihrem Buch stellt sie als Motto ein Zitat von Fritz Stern voran: »Und doch, vor einigen Jahren in einem deutschen Interview gefragt: ›Was fällt Ihnen bei dem Wort Heimat ein‹, gab ich die mich völlig überraschende sofortige Antwort: ›Heimatlos.‹«

Trotz ihrer beruflichen und familiären Integration in der neuen westdeutschen Heimat kommt also diese als Jugendliche vertriebene Frau im Alter zu der Erkenntnis, dass sie eigentlich heimatlos ist. Dies ist ein Grundgefühl, das sicherlich bei vielen Vertriebenen vorherrscht, wenngleich die Heimatlosigkeit vermutlich oft mehr dunkel und unangenehm geahnt als reflektiert wurde und wird. Sie wurde und wird als ein untergründiges Missbehagen, doch nie ganz dazuzugehören, zwar gespürt, aber kaum ausgesprochen, betrauert und dann, im besten Falle, zu einer neuen, produktiven Identität gemacht. Oft aber wird das Gefühl der Heimatlosigkeit peinlich und demütig verschleiert. Nur wenige können sich dieser Erkenntnis stellen, nicht nur heimatlos zu sein, sondern – bei allen rastlosen Integrationsversuchen – sogar heimatlos geblieben zu sein, oder das Heimatlosigkeitsgefühl auf die eigenen Kinder übertragen zu haben. Viele Vertriebene konnten auch in den Vertriebenenverbänden keine neue Heimat finden, da diese ihnen als künstlich (wie sagte eine Vertriebene? »Solche Trachten habe ich in Schlesien nie gesehen!«) oder als rückwärtsgewandt erschienen.


Heimatlos oder Heimat wie ein Flickenteppich, ein bisschen die eigene Kindheit im Westen, ein bisschen die Heimat der Eltern, ein bisschen der Ort, an dem man jetzt lebt, bezeichnenderweise ist es Berlin – so beschreibt es ein Vetriebener der zweiten Generation, ein Adliger, dessen Familie alle Besitzungen in Schlesien verloren hat und dessen Eltern nie so ganz angekommen sind im Westen. Er selbst leidet sehr unter dem unbestimmten Heimatgefühl, das auf den Heimatverlust folgt, und ist davon so sehr geprägt, dass sich sein Leben ebenso unbestimmt und schwankend gestaltet. Er sagt, dass er sich selbst gerne provokativ, aber durchaus nicht nur ironisch, als Schlesier bezeichnet. Sein Bruder, der beruflich und familiär besser Tritt gefasst hat und sich vordergründig nicht so sehr für die schlesischen Wurzeln interessiert, lässt plötzlich verlauten, er wolle später einmal in Schlesien, in ihrem Herkunftsort, bestattet werden. So, als wisse er, wohin er am Ende gehöre, so, als könne er schließlich nach Hause kommen.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 25. Oktober 2010

Vexierbilder

Beispiel sieben: Ein Lehrer, Ende der fünfziger Jahre im Ruhrgebiet geboren, beide Eltern aus Schlesien stammend, lebt heute in Hessen. Sein Interesse an Schlesien und den östlichen Regionen war bislang gering. Auf die Frage nach Heimat antwortet er, dass es auf keinen Fall Hessen und natürlich auch auf keinen Fall Schlesien, wo er noch nie war, sei. Am ehesten noch das Ruhrgebiet seiner frühen Kindheit, obwohl er auch da immer das Gefühl gehabt habe, nicht hundertprozentig dazuzugehören. Dennoch sei das die Gegend, die ihn, wenn überhaupt, am heimatlichsten berühren würde, da er dort das Gefühl hätte, sich auszukennen und "am leichtesten durchzukommen".

Beispiel acht: Ein Übersetzer und Lyriker, Anfang der fünfziger Jahre in Westfalen geboren, ein Elternteil aus Ostpreußen stammend, hat wenig Bezug zu seinem westfälischen Geburtsort. Eher noch bezeichnet er das ostpreußische Dorf seiner Mutter als seine Heimat. Er lebt in Berlin und begründet die Wahl seines Wohnorts damit, dass Berlin die östlichste Stadt in Deutschland ist und er daher dort der Heimat seiner Mutter am Nächsten sei. Er spricht über die "Ungewissheit einer Heimat" und gibt sein Heimatgefühl als ein gebrochenes an. Nach langem Nachdenken kommt er zum Schluss, dass er sich auf keinen Fall als Westfale, sondern als Ostpreuße fühle, ja, dass er Ostpreuße sei.

Vexieren heißt quälen. Was geschieht Kindern, die derartig, also weit über das normale Maß hinaus, mit Projektionen, Sehnsüchten, Übertragungen, Verlusterfahrungen, Träumen und Schmerzen ihrer Eltern beladen werden? Bei einer gewisen Sensibilität erachten sie ihre eigene Kindheit für viel weniger bedeutend als all die Geschichten, die sie immer wieder mythengleich hören, die schwerer wiegen, die gewichtiger sind. Das ist keine absichtliche Quälerei, keine Boshaftigkeit. Im Gegenteil. Die Eltern wollen ihren Kindern etwas von sich, von ihrem verlustreichen, verlustgeprägten Leben mitgeben, sie wollen, dass das Verlorene weiterlebt. Die beiden Extreme, die sich daraus entwickeln können, lauten: entweder wollen die erwachsenen Kinder gar nichts mehr davon wissen, oder sie wollen nur noch davon wissen, eins so schwierig, so quälend, wie das andere.


Seit den neunziger Jahren erstreckt sich die Traumaforschung in der Psychologie zunehmend auch auf die Erlebnisse und Erfahrungen der Vertriebenen und ihrer Kinder. Psychische Störungen (das sogenannte posttraumatische Belastungssyndrom), Krankheiten, Depressionen und allgemeine Lebensprobleme werden mit diesen Erfahrungen in Verbindung gebracht. Wichtig in diesem Zusammenhang sind die Publikationen von Helga Hirsch, "Schweres Gepäck" (2004), oder von Astrid von Friesen, "Der lange Abschied. Psychische Spätfolgen für die zweite Generation deutscher Vertriebener" (2000). Diese Ansätze sind gerechtfertigt und sinnvoll. Und doch sollte hier an dieser Stelle keine Syptomerforschung im Vordergrund stehen, sondern eher einfach danach gefragt werden, wie es Vertriebenen und ihren Nachfahren gelingt, den Heimatverlust auszuhalten, wie sie darauf reagieren, welche manchmal sehr verschlungenen Wege sie gehen, den Verlust zu überwinden oder zumindest zu lindern. Und, wenn sie sich selbst für heimatlos halten, wie sie diese schonungslose Diagnose aushalten können, ja, ob sie es vielleicht sogar schaffen, sie produktiv umzumünzen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 21. Oktober 2010

Varianten

Im letzten Blogeintrag wurden bereits zwei Beispiele genannt, wie sich die zweite Generation der deutschen Vertriebenen gegenüber der alten und der neuen Heimat der Eltern oder eines Elternteils verhält. Es folgen weitere.

Beispiel drei: Ein Schriftsteller, noch in Schlesien geboren, kam mit einem Jahr in die DDR bzw. die SBZ, wo er als Kind durchaus die Ausgrenzung der Vertriebenen erlebte. Nach seiner Identität befragt, bezeichnet er sich als Schlesier qua Geburtsort, nimmt dann wieder Distanz dazu ein, um sich aber plötzlich für die unfreiwillig komische schlesische Dichterin Friderike Kempner - "das kann nur ein Schlesier verstehen" - und für den niederschlesischen Komiker Lommel und seinen Sender Runxendorf zu begeistern. Er kennt und schätzt also den niederschlesischen Dialekt, um sich im gleichen Atemzug wieder davon zu distanzieren: es sei schließlich ganz normal, dass jeden Tag so und so viele Sprachen aussterben, da sei das Verschwinden des niederschlesischen Dialekts auch nichts besonderes. Bezüglich seines Heimatgefühls bleibt er schwankend, hin- und hergezogen zwischen Nähe und Ferne, Anziehung und Abstoßung.

Beispiel vier: Eine Lehrerin, um 1950 in Niedersachsen geboren und dort auch beruflich und familiär verwurzelt, bezeichnet Schlesien als ihre Heimat, da ihre Mutter von dort stammt. Sie selbst lässt sich dem Grünenmilieu zurechnen. Da die ganze Familie mit Kindern und Enkeln seit vielen Jahren jedes Jahr auf familiären Spuren eine Reise ins Riesengebirge unternimmt, ist ihr diese Landschaft, dieser Landstrich sehr vertraut geworden, und sie hält sie, obwohl sie kein polnisch versteht, für ihre wahre Heimat. Jedenfalls fühlt sie sich dort viel heimatlicher verwurzelt als in ihrem eigenen Geburtsort in Niedersachsen.

Beispiel fünf: ein Lyriker und Übersetzer, geboren um 1960 in der DDR, der von Vertriebenen aus Schlesien und Danzig abstammt. Durch seinen schlesischen Großvater, der in der DDR im privaten Rahmen schlesischen Dialekt sprach, über die neue Zeit klagte und sich nicht anpasste, erfuhr er viel über Schlesien. Zu Hause wurde schlesisch gekocht und gelästert. Seine Mutter allerdings überassimilierte sich im neuen Gesellschaftssystem. In den achtziger Jahren reiste er nach West-Berlin aus. Auf die Frage, was für ihn Heimat sei, sagt er wie aus der Pistole geschossen: "Die Motetten von Bach und die deutsche Sprache". Keine Stadt, keine Region kommt für ihn als Heimat in Frage, im Zweifelsfall höchstens Berlin.

Beispiel sechs: Eine Funktionärin des BDV (Bund der Vertriebenen), 1945 noch in Westpreußen geboren, bis die Familie kurz darauf vertrieben wurde. In Westdeutschland wächst sie mit einem Gefühl der Heimat- und Wurzellosigkeit auf. Ihre eigene Kindheit kommt ihr nicht so bedeutsam vor wie die westpreußische Heimat, die in den Erzählungen ihrer Eltern entsteht. Zwischenzeitlich wandert sie nach Amerika aus, kehrt aber nach Deutschland zurück. Heute empfindet sie die westpreußische Landschaft, die, wie sie selbst erzählt, von ihren Vorfahren in zig Generationen kultiviert wurde, wohlgemerkt nur die Landschaft, als ihre Heimat. Die neuen Bewohner allerdings bleiben ihr fremd.

Fortsetzung am kommenden Montag.