Donnerstag, 11. November 2010

Selbstauskunft

Warum geht jemand, der am Rande des Ruhrgebiets geboren und aufgewachsen ist, der nicht von westfälischen, sondern von schlesischen Eltern abstammt, mit neunzehn Jahren nach Berlin? Und nicht in das Berlin von heute, sondern in das marode, geteilte Westberlin der beginnenden achtziger Jahre? Was konnte daran anziehend sein? Es waren wohl die zerschossenen Häuser und Kriegsruinen, die noch sichtbar waren, die Ruine des Anhalter Bahnhofs mit dem riesigen überwucherten Gleisareal, die Namen schlesischer Orte auf angerosteten Straßenschildern, das schlesische Tor, die ganze mangelnde Geschichtsvergessenheit, die einen starken Zauber ausübten, viel stärker als die Jetztzeit der Kreuzberger Nächte um 1980 es je vermocht hätte. In beiden Teilen der Stadt, in Westberlin und Ostberlin, war die unfreiwillige Konservierung der jüngeren katastrophischen Geschichte allgegenwärtig. Die Stadt war wohltuend unbequem, sperrig, anachronistisch, kein Vergleich zu den glatten Fassaden hysterischer Geschichtsauslöschung so mancher westdeutschen Stadt. In Berlin schien etwas zu warten, etwas Unerledigtes, die Geschichte zum Greifen nah, der abgetrennte Osten wenigstens noch schemenhaft präsent.

So kam es, dass die Stadt mich wie ein Magnetberg anzog, mich fesselte, ohne dass ich genau hätte sagen können warum, mich in ihren Bann zog. Ich tat merkwürdige Dinge zu Beginn der achtziger Jahre. In der frühen Dämmerung eines Winternachmittags begab ich mich zur Ruine des Anhalter Bahnhofs, umkreiste sie und tauchte dann in das dahinterliegende Gleisareal ein, das verödet und überwuchert da lag. Unter der winterlich abgestorbenen Vegetation fand ich alte verrostete Gleise, Schienenstränge mit Holzschwellen. Ich wusste nichts. Ich wusste nur, dass mein Vater während des Zweiten Weltkriegs hier mehrfach angekommen und abgefahren sein musste. Vielleicht von und nach Schlesien? Nichts wusste ich. Aber es reichte aus, um in der Dunkelheit eine geschichtliche Aura über die Brache zu wölben. Ich bückte mich und brach ein Stückchen morschen Schwellenholzes ab. In Erwartung verschwörerischen Einverständnisses überreichte ich es meinem Vater zu Weihnachten. Er aber schaute mich verständnislos an und ließ es liegen.

Das ist lange her. Die Stadt hat sich gewandelt. Das mit jüngerer Geschichte gesättigte Vakuum ist nach der Wende belüftet worden. Die Stadt ist damit beschäftigt, ihre Ecken und Kanten abzuschmirgeln, die historischen Verwerfungen zu zähmen, zur Beruhigung allerorten harmlose Bären und lustige Schilder aufzustellen, auf denen im Triumph der Paradoxie steht, wie man zu sein hat, um Berlin zu sein, Wandel und man selber, anders und sexy, arm oder exzentrisch oder so wie alle. Jeder kann sich, je nach Neigung, neue Schilder ausdenken, womöglich »Sei Schloss. Sei Brache. Sei Berlin«. Kaum aber vorstellbar wäre folgender Slogan: »Sei Schlesien. Sei Pommern. Sei Berlin.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

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