Donnerstag, 23. September 2010

Deutsche Fluchten

Vertriebene – das Wort allein löst immer noch bei vielen Menschen in Deutschland Aversionen aus, sowohl in der ehemaligen DDR als auch im Westen. Immer noch wird es amorph mit Rückwärtsgewandtheit, Ewiggestrigkeit, Revanchismus, oder noch amorpher mit irgendetwas gar nicht genau Bekanntem, aber enorm Verstaubtem in Verbindung gebracht. Die Querelen um das Sichtbare Zeichen, um das Zentrum gegen Vertreibungen zeugen davon. Und gar noch zweite Generation von Vertriebenen – das klingt ja nachgerade so, als sollte es nie aufhören! Am besten gar dritte und vierte Generation, um künstlich etwas wachzuhalten, das längst erledigt ist oder sein sollte. Gras muss über die unliebsame Sache wachsen, wachsen und weiterwachsen. Es ist doch längst gewachsen, meinen viele.
In Deutschland ist man sehr offen. Das Interesse an anderen Kulturkreisen, anderen Gewohnheiten und Gebräuchen, anderen Speisen, Sprachen und Religionen, sogar an anderen Kriegen und Vertreibungen ist ungewöhnlich groß. Nicht umsonst gehören die Deutschen immer noch zu den Spitzenreitern des weltweiten Reiseverkehrs. Sie sind Meister der Übersprungshandlungen. Sie können sich kopfüber auf etwas Fremdes einlassen und vor lauter Enthusiasmus das Eigene vergessen. Und nicht erst seit den dunkelsten Verwerfungen der jüngeren deutschen Geschichte. Schon vorher, im 19. Jahrhundert beispielsweise, konnten sich die deutschen Einwanderer in Amerika besonders schnell anpassen, ihre Eigenheiten hinter sich lassen, sie konnten sich, also ihre Ecken und Kanten, ihre Speisen und Dialekte, ihre Religionen und Gewohnheiten ins große Ganze einschmelzen. Das kann eine besondere Fähigkeit, ein Gabe sein. Es kann aber auch etwas auf der Strecke bleiben.

Das Eigene – was ist das? Bevor man an die Nationalgeschichte oder an regionale Prägungen denkt, ist es die Geschichte der Eltern oder der Großeltern, die zum Eigenen werden kann, denn das ist ja die erste Zeitgeschichte, von der ein junger Mensch erfährt, die ihn vielleicht zu fesseln vermag, die nie ganz privat ist, sondern immer auch kollektive Erfahrungen transportiert. Mancher inkorporiert die Geschichte seiner Eltern als sein Eignes, mancher scheidet sie wieder aus. Das ist auch abhängig von den Konjunkturen der jeweiligen Zeitstimmung, von den Haussen und Baissen, die derlei Geschichten als wertvoll nach oben oder als wertlos nach unten steigen lassen. Was zählt, lässt sich leichter aufnehmen, was nicht zählt, lässt sich leichter ausscheiden, abspalten, mit einem Bann belegen. In der Bundesrepublik der siebziger, achtziger Jahre standen die Aktien schlecht für die Geschichten der Eltern. Das hatte den Grund darin, dass die Bundesrepublik sich in dieser Zeit mit der eigenen Schuld, mit der Shoah auseinanderzusetzen begann. Daran gemessen waren die Geschichten der Eltern und Großeltern klein und tendenziell unter den Generalverdacht der nationalsozialistischen Verstrickung gestellt. Im Zweifelsfall waren sie korrumpiert.
Immer wieder berichten Israelis und Juden aus anderen Ländern von dem Drang vieler aufgeschlossener junger Deutscher zu dieser Zeit, durch Übersprungshandlungen die besseren Juden sein zu wollen, sich mit den Opfern, nicht mit den Tätern zu identifizieren, was die echten Juden verwunderte. Denn so leicht lässt sich der eigenen Geschichte nicht entfliehen, der eigenen Familie nicht entkommen.

1 Kommentar:

  1. Vielen Dank für den interessanten Text an die Aurotin Roswitha Schieb. Das mit dem Abspalten, Wegdrängen der Möglichkeit einer Besinnung auf das, was Eigenes sein kann wie seine ursprüngliche Herkunfsfamilie bei gleichzeitigem Offensein für das Fremde - das ist schon in der Folge beinah fast unvereinbar. Ich kann es sehr gut nachempfinden, warum Abspalten sein muss, sonst würde man wohl mit dauernd vollzogenen Spagat etwas verrückt werden. Aber gut ist es nicht, weil man da nämlich auch verrückt werden kann, denn es weht einen doch - ist der familiäre Hintergrund wurzellos in gewisser Weise - immer mal wieder etwas an, was das Eigene ist, das einem aber durch das Abspalten wiederum als ein Fremdes erscheint und eben dann auch wieder nicht. Es ist eine Paradoxie, die sich nicht lösen lässt. Aber muss der aufgeklärte Mensch nicht dem gewachsen sein, was wir mit dem Aushalten von Widersprüchen umschreiben können? Gegen kalte Fremdheitsgefühle würde ich gerne eine wärmende Fremde setzen. Denn das Fremde in uns und nicht der andere Fremde, ist das, was uns irritiert, denn der Andere, ist er ein Fremder, ist er anderer Nationalität, weist doch nur auf die eigenen fremden Anteile in uns hin. So würde eine größere Durchlässigkeit geschaffen, die nichts mehr verdrängen muss und die es auch nicht nötig hat, Dinge zu verwässern, sondern die auf die Narben durch erlittene Traumata hinweisen darf und sich so einen Dialog erst öffnen kann.
    Sabine Rothemann

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