Das ist in Polen ganz anders. Zwar war es während der Zeit des Sozialismus in Polen inopportun, ja verboten, öffentlich über die verlorenen polnischen Ostgebiete, also Städte wie Lemberg und Wilna, zu sprechen und vor allem ihren Verlust zu beklagen. Aber privat, in den Familien und unterschwelligen Gruppen, waren die Geschichten über den verlorenen polnischen Osten hoch im Kurs, und nicht nur die Geschichten, auch der Dialekt, das Essen, die Lieder, das von dort Mitgebrachte. Das Wachhalten der Erinnerung hatte etwas von Subversion, von nationalem Widerstand gegen ein aufoktroyiertes Regime, es war eine wirkungsmächtige Mischung aus Heroismus und melancholischer Empfindsamkeit.
Krajewski, Marek: Tod in Breslau, dtv Verlag 2009 Foto: © buchhandel.de |
All das beeinflusste auch Marek Krajewski. 1966 in Breslau geboren, zählt er zur zweiten Generation der Vertriebenen, da seine Mutter, wie viele neue Bewohner Breslaus, aus Lemberg stammte. Krajewski ist klassischer Altertumsforscher, Altphilologe und gleichzeitig populärer Krimiautor. In den sechziger, siebziger Jahren im polnischen Breslau aufgewachsen konnte er vor Ort die nationalpolnischen Bemühungen beobachten, den urslawischen Urgrund Breslau durch archäologische Ausgrabungen und Neubewertungen auszuloten, um den neuen Herrschaftsanspruch über die »wiedergewonnenen Gebiete« nach 1945 zu untermauern. Möglicherweise hat ihn dies dazu angeregt, sich mit der noch älteren Archäologie, der klassischen Antike, beruflich zu befassen. Aber diese Beschäftigung führte unter Umständen zu weit weg von einer antiken Schicht Breslaus, die zwar schon entfernt genug war, also einen gewissen Mumifizierungs- und Petrifizierungsprozess durchlaufen hatte, aber doch noch anders unter den Nägeln brannte als die römischen Überreste oder das piastische Erbe: die archäologische Schicht des Deutschen in Breslau nämlich. Marek Krajewski rekonstruiert in seinen sehr populären Breslau-Krimis der letzten zehn Jahre das deutsche Breslau der zehner, zwanziger, dreißiger Jahre bis 1945. Er rekonstruiert es geradezu wissenschaftlich und quellenkundlich exakt anhand von alten Stadt- und Fahrplänen, sogar anhand von genau datierten Speisekarten bestimmter Lokale, Speisekarten, die dann in den Romanen an dem exakten Datum mit den exakten Gerichten eine Auferstehung feiern. Er entwirft die Figur eines nicht unsympathischen deutschen Kommissars, Eberhard Mock, ein Schlesier aus Waldenburg, der im Breslauer Rotlichtmilieu ermittelt. Was passiert hier? Krajewskis Familie war nach 1945 in eine mehr oder weniger von ihren angestammten Bewohnern entvölkerte Stadt gekommen, in eine fremde Stadt, in eine Stadt, deren Überlieferungen und Traditionen nicht die ihren waren. Dem Sohn genügten die angebotenen Identifikationsmöglichkeiten á la wiedergewonnene Gebiete, urslawischer Boden, piastisches Erbe, polnische Muttererde, Breslau als neues Lemberg irgendwann nicht mehr - wie vielen aufgeschlossenen Vertretern seiner Generation. Er wollte sich nicht mit der amputierten Erinnerung, mit der Gedächtnislosigkeit der Stadt Wrocław abspeisen lassen. Er merkte, dass es sich in diesen Regionen komplizierter mit der Identität verhält, dass der genius loci Breslaus eine größere Komplexität bereithält, die die deutsche Vergangenheit nicht außer Acht lassen darf. Und so begann er akribisch, genau und mit viel überschäumender Phantasie sich die jüngere deutsche Zeit zu erobern, sie zu rekonstruieren und sie gleichzeitig neu zu erfinden, um schließlich ein Konstrukt von Heimatgefühl dem neuen Breslau gegenüber zu entwickeln. Und dieses Heimatgefühl hat sich die Schicht der deutschen Antike sozusagen einverleibt, sich ihrer vergewissert, sie sich anverwandelt. Nur so entsteht ein komplexes Panorama der Stadt. Nur so entsteht eine runde Indentität ihrer Bewohner. Nun können sie ohne ängstliche Klitterung und mit größerer Offenheit zu neuen Niederschlesiern, zu neuen Breslauern werden.
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