Das Brandenburger Tor ist ein Gradmesser, ein Seismograph für deutsche Befindlichkeiten. Die dortige Silvesterfeier 1989/1990 erging sich in Euphorie, die Silvesterfeier im Jahr darauf in Depression, bis sich die Stimmung langsam in einer Mittellage einpendelte. Ohne das Brandenburger Tor wäre Berlin kaum vorstellbar. Es ist beinahe gar kein Gebäude mehr, sondern eine Stadtikone, die in unausdenkbar vielen Variationen durch die Stadt geistert. Das Bauwerk ist ein Logo geworden. Es bedeckt in Kleinformat die Fenster der Berliner U-Bahnen, ziert rot auf gelbem Grund sehr stilisiert die Schnauze der Berliner Busse, es findet sich verformt mit bunten, herausgelösten, flott hingetuschten Säulen über die ganze Stadt verteilt, sogar gusseisern auf Gullideckeln. Junge Akrobaten studieren im Schul-Zirkus die Nummer Brandenburger Tor ein - die Pfeiler aus aufrechtstehenden, die Attika aus darübergelegten Körpern. Die größten Triumphe der Nachbildung feiert es allerdings in den Touristenläden Unter den Linden. In Regalen, die selbst auch das Brandenburger Tor nachbilden, finden sich Teller, Trinkgefäße aller Art, von Zinnhumpen, über Keramikbecher bis hin zu geschliffenen Gläsern, vergoldete Schmuckanhänger, Aschenbecher, Porzellanglocken, Pergamentrollennachbildungen aus einem undefinierbaren Material, Pillendöschen und Fingerhüte, Porzellansenftöpfchen, Briefbeschwerer und Schneekugeln, batterieweise in allen Größen, die das Brandenburger Tor ab- und nachbilden. Es schneit wunderschön in diesen Kugeln, weiß und grünglitzernd.
Vor den Geschäften steht ein Prägeautomat und verwandelt das Eichenblatt des 2-Cent- oder 5-Cent-Stücks in ein Brandenburger Tor, damit die Kupfermünzen den 10-, 20- und 50-Centmünzen ähnlicher werden. Vor dem Brandenburger Tor selbst, dessen reale, physische Existenz man nach den vielen Devotionalien kaum noch glauben kann, ballen sich dann karnevaleske Geschichtskürzel: ein Vopo posiert neben einem amerikanischen GI, ein Berliner Bär neben einem Indianer, ein NVA-Mann neben einem futuristischen Ritter-Monster, während Bürgerrechtsgruppen aus aller Welt oder Tierschützer auf ihre Belange hinweisen.
Das Brandenburger Tor kennt jeder. Seinen Erbauer aber kennen nur wenige. Der Architekt Carl Gotthard Langhans, der beileibe nicht nur dieses Wahrzeichen erbaut hat, hat es in Berlin nicht einmal zur Benennung einer Straße gebracht. Anders als die Langhansstraße in Potsdam geht die Langhansstraße in Pankow-Weißensee nämlich nicht auf ihn zurück. Keine Gedenktafel, keine Schulbenennung weist auf ihn hin. Beerdigt wurde er in Breslau-Grüneiche, geboren im schlesischen Landeshut. Viele Bauwerke schuf er in Schlesien, viele in Berlin und Umgebung. Aber schon im 19. Jahrhundert wurde sein Name von Schinkels Namen verdunkelt. Das ist schade. Denn Langhans' Werk markiert die Schnittstelle zwischen Barock und Klassizismus. Es ist so mannigfaltig, dass es wieder entdeckt werden sollte. Das Buch macht sich auf diese Reise.
Fortsetzung am kommenden Montag.
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