Im Jahr 2001 erschien im Wißner-Verlag das Schlesische Musiklexikon, herausgegeben von Lothar Erbrecht-Hoffmann. Auf beinahe tausend Seiten drängen sich Namen, biographische Angaben, Werkverzeichnisse von Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern aus Schlesien, die dort und andernorts wirkten. Viele von ihnen kamen im 19. Jahrhundert und später nach Berlin, wirkten hier und prägten die Berliner Musiklandschaft entscheidend.
So der Komponist und Musikpädagoge Julius Stern, 1820 in Breslau geboren, der bereits 1832 nach Berlin kam, durch ein Stipendium Friedrich Wilhelms IV. gefördert wurde und 1847 einen eigenen Gesangsverein gründete, der eine ernsthafte Konkurrenz zur berühmten Berliner Sing-Akademie darstellte. Werke von Felix Mendelsohn-Bartholdy und Beethoven wurden dort aufgeführt. 1850 gründete er eine Musikschule, das spätere Stern'sche Konservatorium, eine bedeutende Ausbildungsstätte für musikalischen Nachwuchs in Berlin - übrigens auch heute noch. Die entsprechende Einrichtung der Universität der Künste (UdK) trägt den Namen Julius-Stern-Institut für musikalische Nachwuchsförderung. Sterns Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee.
Es ist müßig, alle aus Schlesien stammenden Musiker und Komponisten, die in Berlin wirkten, aufzuzählen. Die Liste wäre unübersichtlich lang und doch immer unvollständig. Einige große Namen finden sich auch im Buch. Nur wenige sollen hier erwähnt werden. Es ist erstaunlich, wie viele Organisten, die in Berlin tätig waren, aus Schlesien stammten, so Heinrich Reimann, 1850 im schlesischen Rengersdorf geboren, der zunächst Organist der Berliner Philharmonie, dann der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war. Oder Otto Dienel, 1839 in Tiefenfurt im Kreis Bunzlau geboren, Organist der Berliner Marienkirche, der um 1900 der bekannteste Organist Berlins war. Der Aufstieg Dienels vom kleinbürgerlichen Kantorensohn aus der niederschlesischen Provinz zum angesehenen Berliner Bildungsbürger ist fast exemplarisch zu verstehen: im Buch werden ähnliche Karrieren im Zusammenhang mit Adolph Menzel und August Borsig nachgezeichnet.
Otto Dienels Bekannt- und Beliebtheit war auch seinen kostenlosen »Orgelvorträgen« geschuldet, die er immer mittwochs abhielt und die aufgrund ihrer Lebendigkeit und Improvisationsfreudigkeit bei Zuhörern aller Schichten derart beliebt waren, dass die Marienkirche oft polizeilich geschlossen werden musste, da sie die heranpilgernden Massen nicht mehr fassen konnte. Wer seine Choralbearbeitung »Wer nur den lieben Gott läßt walten« hört, kann die damalige Begeisterung teilen: mit leichter Hand gelingt es ihm, den ernsten, strengen Bachchoral mit spätromantischen Ornamenten zu umgeben, ja beinahe impressionistisch zu betupfen, was den Choral in einen musikalischen Schwebezustand versetzt.
Auch der 1862 in Liebau bei Landeshut geborene Conrad Ansorge war ein spätromatischer Komponist, wenngleich nicht Organist, sondern Pianist. Seine »Traumbilder« (Op. 8) mit den elegischen Zwischentiteln »Erinnerung«, »Vergangenheit«, »Zu spät (nach Lenau)« sind von eingängigen Harmonien ohne Schärfe geprägt, sie sind weich, gefühlsbetont, an manchen Stellen beinahe süßlich. Mit den Musikern und Komponisten aus Schlesien kam ein anderer Ton in das preußisch-karge Berlin, etwas weniger Hartes, eine noch eher aus Österreich stammende Tradition, etwas Gefühlvolleres, Seelenvolleres. Diese neuen Töne der Gemütstiefe fielen in Berlin auf fruchtbaren Boden. Das Ehrengrab für Conrad Ansorge auf dem Friedhof an der Heerstraße und die Gedenktafel an seinem Haus Nußbaumallee 27 in Berlin-Westend zeugen davon ebenso wie das prunkvolle Grab des heute zu Unrecht fast vergessenen Otto Dienel auf dem Friedhof an der Bergstraße in Steglitz, das ihm seine dankbaren Schüler errichteten.
Beide Abbildungen: © Universitätsbibliothek Frankfurt am Main – Porträtsammlung Friedrich Nicolas Manskopf, mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main
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