Donnerstag, 16. Dezember 2010

Mohn

Die Bäckerei Hutzelmann in Charlottenburg nennt sich »Schlesische Backstube«. Seit den zwanziger Jahren in Familienbesitz, existiert der Laden in der Wilmersdorfer Straße seit 1957. Der Großvater der heutigen Bäckerin kommt aus der Oppelner Gegend und hat von dort die schlesischen Backrezepte mitgebracht. Die Bäckerei bietet verschiedene Mohnkuchen, preisgekrönte Mohnstollen, Liegnitzer Bomben, schlesischen Butterstreußel in mehreren Variationen und schlesische Quarkpiroggen an. Überhaupt wird viel mit Hefe gebacken. Die Kunden sind zum Teil Berliner Anwohner, zum Teil kommen sie auch von weiter her gezielt in diese Bäckerei, weil sie schlesische Wurzeln oder eine besondere Vorliebe für schlesisches Backwerk haben. Bis in die achtziger Jahre hinein, so erzählt die Bäckerin, sei der Satz »Jeder gute Berliner Bäcker kommt aus Schlesien« zu Recht im Umlauf gewesen. Nun seien sie die einzige Backstube dieser Art in Berlin. Zu ihrer großen Freude habe sie eine Bezugsquelle für Mohn aus der Umgebung von Breslau aufgetan, wo es den guten Blaumohn gibt, der dann in der Backstube nach traditionellem Verfahren lange in einem großen Kessel gebrüht wird. Man schmeckt es.

Mohnklöße bilden zum traditionellen schlesischen Weihnachts- und Silvesteressen den Nachtisch. Sie bestehen aus Mohn, eingeweichten Brötchen, Mandeln und Rosinen in süßer Milch. Ein Schuss Rum nimmt dem Gericht das Klebrige und macht es pfiffiger. Dem berühmten, aus Breslau stammenden Theaterkritiker Alfred Kerr, der 1887 von Schlesien nach Berlin ging und sich dort wie ein Fisch im Wasser tummelte, fehlten in der deutschen Hauptstadt zu seinem Vollglück nur zwei Dinge, derer er sich mit Wehmut erinnert: Bauerbissen, also eine Art großer Pfefferkuchen, und schlesische Mohnklöße:
»Bauerbissen, sicher der erdgerüchigste aller Pfefferkuchen, den man in Schlesien für einen Sechser pfundweise fröhlich aß, er lässt sich nicht aus der Erde stampfen. Verschollen sind die Tage, wo uns die Kinnbacken schmerzten, vom vielen Kauen des frischen, weichen Zeugs. Bauerbissen, du bist ein Mythus, du lächelst herüber aus der Geisterwelt, grüßend und dich neigend und einsam verschwindend. Bauerbissen, du bist die Vergänglichkeit. Bauerbissen, du bist die Ahnung des ersten grauen Haars. Bauerbissen, nie werde ich dich wieder so fressen (es muss heraus, das schändliche Wort) wie einst im Dezember. Bauerbissen, was hier unter deinem Namen verschleißt wird, ist altes Leder. Die Zähne bricht man sich aus; und es schmeckt nach Wichse.«

Gedenktafel für Alfred Kerr am Haus
Höhmannstraße 6 in Berlin-Grunewald
Und auch der Vergleich der schlesischen Mohnklöße mit den Berliner Mohnpielen fällt für letztere verheerend aus:
»Und auch ihr, meine lieben Mohnklöße, seid eine Melancholie, ein Märchen aus alten Zeiten. Ihr seid versunkene Kränze. Semmel im Wasser mit schwarzem Mohn und Vanille, darin liegt eure Größe. Hier nennt man euch – uäh, uäh! – Mohnpielen. Das ist die gemengte Speise aus süßlichem Rosenwasser, mit kleinen glitschigen Würfelchen und weißem fadem Mohn und etwas Zucker, und schmeckt nach nichts. [..] Mohnklöße meiner Jugend, lebt wohl. Zieht hinab den leuchtenden Strom der Vergänglichkeit, in die Dämmerung, in die seltsam dunkle Ferne, wo die große Stille herrscht.« (Alfred Kerr, Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole, S.153f.)

Auch bei Fontane spielen Mohnpielen eine Rolle, in seinem Romanerstling Vor dem Sturm nämlich, und auch hier ist die Rolle fragwürdig. In dem Kapitel »Bei Frau Hulen« (3. Band, 4. Kapitel) lädt Frau Hulen, die Berliner Zimmerwirtin des adligen Protagonisten, Gäste ein und bewirtet sie mit etlichen Gerichten. Mohnpielen, »auf dem Mohn eine dichte Lage von gestoßenem Zimt«, werden hier als erster Gang gereicht. Die ganze Szene ist als Zerrspiegelung des Gesellschaftslebens der großen Welt auf Kleinbürgerniveau angelegt. Gespräche misslingen, Eitelkeiten werden verletzt, Bildungsgehabe misstrauisch beäugt. Es ist ein Kabinettstückchen der Abgrenzung von millimeterfeinen Standesunterschieden. Zum Schluss ist nur Frau Hulen restlos zufrieden. Alle anderen Gäste streben auf der Straße auseinander und versichern sich ehepaarweise, das man dort nicht mehr hingehen könne. Und ein besonders triftiges Argument dabei lautet:
»Die Hulen ist eine gute Frau, aber was waren das für Pilen? Semmelstücke, und das bißchen Mohn kratzig und multrig.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 13. Dezember 2010

Schlesische Musik

Im Jahr 2001 erschien im Wißner-Verlag das Schlesische Musiklexikon, herausgegeben von Lothar Erbrecht-Hoffmann. Auf beinahe tausend Seiten drängen sich Namen, biographische Angaben, Werkverzeichnisse von Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern aus Schlesien, die dort und andernorts wirkten. Viele von ihnen kamen im 19. Jahrhundert und später nach Berlin, wirkten hier und prägten die Berliner Musiklandschaft entscheidend.

So der Komponist und Musikpädagoge Julius Stern, 1820 in Breslau geboren, der bereits 1832 nach Berlin kam, durch ein Stipendium Friedrich Wilhelms IV. gefördert wurde und 1847 einen eigenen Gesangsverein gründete, der eine ernsthafte Konkurrenz zur berühmten Berliner Sing-Akademie darstellte. Werke von Felix Mendelsohn-Bartholdy und Beethoven wurden dort aufgeführt. 1850 gründete er eine Musikschule, das spätere Stern'sche Konservatorium, eine bedeutende Ausbildungsstätte für musikalischen Nachwuchs in Berlin - übrigens auch heute noch. Die entsprechende Einrichtung der Universität der Künste (UdK) trägt den Namen Julius-Stern-Institut für musikalische Nachwuchsförderung. Sterns Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee.

Es ist müßig, alle aus Schlesien stammenden Musiker und Komponisten, die in Berlin wirkten, aufzuzählen. Die Liste wäre unübersichtlich lang und doch immer unvollständig. Einige große Namen finden sich auch im Buch. Nur wenige sollen hier erwähnt werden. Es ist erstaunlich, wie viele Organisten, die in Berlin tätig waren, aus Schlesien stammten, so Heinrich Reimann, 1850 im schlesischen Rengersdorf geboren, der zunächst Organist der Berliner Philharmonie, dann der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war. Oder Otto Dienel, 1839 in Tiefenfurt im Kreis Bunzlau geboren, Organist der Berliner Marienkirche, der um 1900 der bekannteste Organist Berlins war. Der Aufstieg Dienels vom kleinbürgerlichen Kantorensohn aus der niederschlesischen Provinz zum angesehenen Berliner Bildungsbürger ist fast exemplarisch zu verstehen: im Buch werden ähnliche Karrieren im Zusammenhang mit Adolph Menzel und August Borsig nachgezeichnet.

Otto Dienels Bekannt- und Beliebtheit war auch seinen kostenlosen »Orgelvorträgen« geschuldet, die er immer mittwochs abhielt und die aufgrund ihrer Lebendigkeit und Improvisationsfreudigkeit bei Zuhörern aller Schichten derart beliebt waren, dass die Marienkirche oft polizeilich geschlossen werden musste, da sie die heranpilgernden Massen nicht mehr fassen konnte. Wer seine Choralbearbeitung »Wer nur den lieben Gott läßt walten« hört, kann die damalige Begeisterung teilen: mit leichter Hand gelingt es ihm, den ernsten, strengen Bachchoral mit spätromantischen Ornamenten zu umgeben, ja beinahe impressionistisch zu betupfen, was den Choral in einen musikalischen Schwebezustand versetzt.

Auch der 1862 in Liebau bei Landeshut geborene Conrad Ansorge war ein spätromatischer Komponist, wenngleich nicht Organist, sondern Pianist. Seine »Traumbilder« (Op. 8) mit den elegischen Zwischentiteln »Erinnerung«, »Vergangenheit«, »Zu spät (nach Lenau)« sind von eingängigen Harmonien ohne Schärfe geprägt, sie sind weich, gefühlsbetont, an manchen Stellen beinahe süßlich. Mit den Musikern und Komponisten aus Schlesien kam ein anderer Ton in das preußisch-karge Berlin, etwas weniger Hartes, eine noch eher aus Österreich stammende Tradition, etwas Gefühlvolleres, Seelenvolleres. Diese neuen Töne der Gemütstiefe fielen in Berlin auf fruchtbaren Boden. Das Ehrengrab für Conrad Ansorge auf dem Friedhof an der Heerstraße und die Gedenktafel an seinem Haus Nußbaumallee 27 in Berlin-Westend zeugen davon ebenso wie das prunkvolle Grab des heute zu Unrecht fast vergessenen Otto Dienel auf dem Friedhof an der Bergstraße in Steglitz, das ihm seine dankbaren Schüler errichteten.

Beide Abbildungen: © Universitätsbibliothek Frankfurt am Main – Porträtsammlung Friedrich Nicolas Manskopf, mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main

Donnerstag, 9. Dezember 2010

Eulen nach Berlin

Im Buch Jeder zweite Berliner. Schlesische Spuren in Berlin wird es um viele Phänomene gehen, die mit schlesischen Einflüssen auf die Stadt in Verbindung stehen. Damit die Fülle des Materials nicht einfach aneinandergereiht wird, soll das Wagnis unternommen werden, sozusagen schlesische Charakteristika herauszupräparieren. Dabei kehren immer vier Punkte wieder: verehrende oder auch kritische Bezugnahme auf die Hohenzollern, ein großes Interesse für soziale Belange, religiöse Züge und ein spezifischer Witz.

Alle diese vier Punkte finden sich auch im Werk des zeitgenössischen Bildhauers Günter Anlauf, der 1924 im Kreis Bunzlau geboren wurde und der vor zehn Jahren starb. Vor allem über ganz Westberlin verteilt sind die Spuren seines Wirkens. Von seinem Autobahnbären hatten wir bereits gehört. Wie aber bezieht er sich auf die Hohenzollern? Hier reicht der Bogen von der »Bildsäule eines Kurfürsten« (1971), Denkmal des Absolutismus mit leerem Gesicht und Allongeperücke als Säulenstumpf, über vier Attikafiguren der Künste (1971/73) auf dem östlichen Flügel des Schlosses Charlottenburg zu dem Pickelhauben-Stehauf-Klotz »Mars« (1970) mit Schild und Schwert. Seine Preußenkritik wird in dem zugehörigen Vers deutlich:
»Helm und Schwert und Schild - erst prima gedrillt. Schild und Helm und Schwert - dann mächtig ausgezehrt. Schwert und Schild und Helm - endlich wackelt der Schelm.«
Sein Interesse an sozialen Belangen, an politischer Kunst in dem Sinne, dass es ihm um eine nicht-elitäre Kunst in der städtischen Öffentlichkeit geht, die sozusagen jedem zugänglich ist, zeigt sich in vielen öffentlichen Platz-, Brücken-, Park-, Schul- und Friedhofs-Skulpturen sowie Gestaltungen etlicher, nach dem Krieg abgeputzter Berliner Altbaufassaden. Am bekanntesten sind seine vier Bärenskulpturen auf der Moabiter Brücke. Seine Brunnengestaltung für die Frauenhaftanstalt am Friedrich-Olbricht-Damm zeugt von Anlaufs sozialem Anliegen. Helmut Börsch-Supan formuliert dazu:
»Durch den Verzicht auf Dämonie und Olympiertum gewinnt sie (Anlaufs Kunst) einen sozialen Charakter in dem ursprünglichen Wortsinn, daß sie Verbindungen knüpft. Hier ist beste Berliner Bildhauertradition zu spüren: etwas vom Geiste Johann Gottfried Schadows.«

Immer wieder wird in Anlaufs Œuvre der Witz, die Ironie hervorgehoben. Der Humor stellt sicherlich den Hauptzusammenhang seines Werkes her. Aber es hat auch religiöse Seiten. So schuf Anlauf 1980 einen zwölfteiligen Bronzekreuzweg, der von fast unschuldig-naiver Frömmigkeit geprägt ist. Er schuf Grabmale von kindlicher Ratlosigkeit, so den Stein für Günter Bruno Fuchs.


Das Komische in seinem Werk kommt nie auftrumpfend oder besserwisserisch daher, nie mit dem scharfen Schwert des Sarkasmus, sondern entwaffnend, von einer früheren Entwicklungsstufe des Menschen her denkend und gestaltend. Kopffüßler, Mondgesichter, phantastisch-geklitterte Tierfiguren, Ornamente, die zu Eulen werden, Stiere, die zu Möbelblöcken werden, Maskengesichter, Sprachspielereien, sich küssende Schildkröten aus Stein, eine Bodenskulptur, die sich plötzlich zu Mund und Nase formt - all das entspricht den kindlich-spielerischen Aneignungen der Wirklichkeit.

Sogar Anlaufs Tod hat noch ein Lächeln. Sein Grab auf dem Friedhof Heerstraße ist mit seiner eigenen Arbeit geschmückt, die bereits 1968 unter dem sprachspielerischen Titel »Popocapitel« enstand. Das Kapitell auf seinem eigenen Grab als Popo, als dicke, angenehm regressiv wirkende Sehnsuchtskugel, der es gelingt, bevor die Assoziationen platt zu werden beginnen, sich in eine Eule zu verwandeln - soviel Weisheit kann im Witz, im Spiel verborgen liegen.


Foto: © www.wikipedia.de

Montag, 6. Dezember 2010

Berliner Bären

Renée Sintenis: Berliner Bär
auf dem Mittelstreifen
der Autobahn südlich des
ehemaligen Kontrollpunkts
Dreilinden
Der Reisende, der sich Berlin auf der Autobahn nähert, trifft an der nördlichen, der südlichen und der östlichen Stadtgrenze auf je einen Berliner Bären. Wer von Süden oder Westen kommt, sieht auf dem Mittelstreifen der Autobahn 115 an der ehemaligen Grenzübergangsstelle Dreilinden einen schreitenden Bären, geschaffen von der Bildhauerin Renée Sintenis. Diese Bronzeskulptur wurde 1957 aufgestellt und erfreut sich im Kleinformat großer Prominenz, da eine versilberte bzw. vergoldete Miniatur dieser Skulptur jedes Jahr den Preisträgern der Internationalen Filmfestspiele Berlinale verliehen wird. Nach der Wende wurde auf dem Mittelstreifen der östlichen Autobahn 113 kurz vor dem Tunnel Altglienicke ein Abguss des Renée-Sintenis-Bären von Dreilinden aufgestellt.

Günter Anlauf, 1983
Berliner Bär auf der Autobahn 111
Wer auf der Autobahn 111 von Norden kommt, trifft an der Stadtgrenze zwischen Stolpe Süd und Schulzendorf, am ehemaligen Grenzkontrollpunkt Stolpe-Heiligensee auf einen sitzenden Bären, der zierlich sein Beinchen vom Berlin-Sockel herunterhängen lässt. Dieser Bär wurde im Jahr 1983 vom Bildhauer Günter Anlauf geschaffen.

Grabstein Wilhelm Kuhnert
auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf
Foto: © www.wikipedia.de
Beide Künstler sind auf Berliner Friedhöfen beerdigt, Renée Sintenis im Jahr 1965 auf dem Waldfriedhof Berlin Dahlem, Günter Anlauf im Jahr 2000 auf dem Friedhof Heerstraße. Beide Künstler sind vor allem durch die Gestaltung von Tierplastiken hervorgetreten. Und, was hier entscheidend ist, beide Künstler stammen aus Schlesien. Renée Sintenis wurde 1888 im schlesischen Glatz, Günter Anlauf 1924 in Großhartmannsdorf/Landkreis Bunzlau geboren. Nach eigenen Angaben wurde bei ihm schon in der Schule mit dem guten Bunzlauer Ton modelliert, woher sein Hang zum Plastischen und Ornamentalen rühre. Im nächsten Blogeintrag werden wir mehr über Günter Anlaufs Tier-Figuren in Berlin hören. Renée Sintenis wird im Buch Erwähnung finden. Hier ist es wichtig festzuhalten, dass die beiden Künstler einen schlesischen Vorläufer hatten: den 1865 aus Oppeln stammenden Friedrich Wilhelm Kuhnert, berühmtester Tiermaler um 1900. Nachdem dieser von Schlesien nach Berlin gezogen war und dort seine künstlerische Ausbildung absolviert hatte, unternahm er von Berlin aus Reisen in den Norden, nach Ägypten, Ostafrika und Indien, um Landschafts- und Tierstudien vorzunehmen. Anders als seine Kollegen zeichnete er die exotischen Tiere nicht in den Zoos, sondern nach der freien Natur. Zum berühmten zoologischen Werk "Thierleben der Erde" (1901) von Johann Wilhelm Haacke schuf Kuhnert die lebensechten Illustrationen. Sein Lieblingsmotiv waren allerdings nicht Bären, sondern afrikanische Löwen. So, wie der Berliner Pferdemaler Franz Krüger "Pferde-Krüger" genannt wurde, trug Kuhnert seine Leidenschaft für Löwen den Beinamen "Löwen-Kuhnert" ein. Auf seinem Findlingsgrabstein aus dem Jahr 1926 auf dem Südwestkirchhof Stahnsdorf ist ein erschöpft liegender Löwe als Reliefarbeit zu sehen.

Die Leidenschaft für Tiere, für ihre Bewegungen, für ihre körperliche Ausdruckskraft war auch für Renée Sintenis und Günter Anlauf ein Motor ihres Schaffens. Es mag Zufall sein, dass es ausgerechnet zwei aus Schlesien stammende Künstler sind, deren Bärenskulpturen die Stadt Berlin wie mit einer Klammer einrahmen. Aber es ist ein schöner Zufall.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 2. Dezember 2010

Schlesisches Himmelreich

Beim Essen hört die Antike auf. Die Welt ist groß und jetztzeitig, und fast ebenso groß ist die Auswahl an verschiedenen Restaurants und Küchen in Berlin. Je nach Mode boomen eine Weile lang die mexikanischen Restaurants, werden von japanischen abgelöst und diese dann wieder von den thailändischen und den indischen, bis sich alles auf ein normales Maß zurechtegrüttelt hat und mehr oder weniger freundlich koexistiert. Persische Restaurants liegen neben afrikanischen, nepalesische Restaurants neben russischen. Boomt eine Zeitlang das Niegehörte, Niegesehene, Niegegessene, Krokodil und Känguruh oder echte chinesische Küche für Chinesen mit seltsamen Eingeweide und undefinierbaren Zutaten, so gibt es gleichzeitig auch wieder einen Hang, ja fast einen Drang zur traditionellen, bodenständigen, regionalen Küche, zur bayrischen, zur schwäbischen, zur österreichischen und sogar zur böhmischen Küche, wie sie ja heute in Böhmen, in Prag immer noch lebendig ist. Lateinische Küche aber gibt es nicht. Ebenso sucht man schlesische Restaurants im Berliner Stadtbild vergeblich, fast scheint die Küche, wie der niederschlesische Dialekt, ausgestorben zu sein. In Breslau, in Mittel- und Niederschlesien sind mir keine Restaurants begegnet, die die deutsche Küche pflegen. Am Breslauer Ring wird dagegen das Restaurant Karczma Lwowska betrieben, das mit altpolnisch-lemberger Küche aufwartet. Nur in Görlitz, nach der Wende plötzlich der letzte deutsche Zipfel Niederschlesiens, hat man die kulinarischen Traditionen Schlesiens wiederbelebt. Dort gibt es mit einem Mal in einigen Restaurants Schlesisches Himmelreich und schlesische Linsensuppe mit einer Kelle heißen Sauerkrauts in der Tellermitte, in etlichen Bäckereien viel typisches Mohngebäck und schlesischen Sträßelkuchen. Hier scheint also (noch? wieder?) eine Tradition lebendig zu sein.

Die ganze Zeit schon möchte der Berliner Restaurantkenner ungeduldig widersprechen. Natürlich gibt es in Berlin schlesische Restaurants. Das Restaurant Kolk in Spandau zum Beispiel, das seit 1989 Spezialitäten aus Schlesien, Ostpreußen und Berlin anbietet, nach eigener Aussage deswegen, weil die Vorfahren der heutigen Restaurantbesitzer teils aus Schlesien und teils aus Ostpreußen stammen. Hier gibt es die oft süß-saure schlesische Küche, hier gibt es zum Nachtisch schlesische Mohnklöße. Hier kann man wohlschmeckende und gehaltvolle Gerichte bekommen, die auf diese Weise vorm Aussterben bewahrt werden.

Weitere Restaurants in Berlin, die schlesisch in ihrem Namen trugen, das deutsch-schlesische Restaurant Gourmand-Smakosz in Moabit, Kochs Brunnen Gasthaus mit polnisch-schlesisch-deutscher Küche am Prenzlauer Berg sind kürzlich eingegangen. Aber das schlesisch-böhmische Restaurant Duett in Steglitz und das schlesische Restaurant Chopin am Wannsee erfreuen sich größerer Beliebtheit. Letzteres bezieht sich kulinarisch sowohl auf die deutsche mittel-niederschlesische als auch auf die polnisch-oberschlesische Küche, in der Pirogen, Barczsz, Bigos und Żurek (Sauerteigsuppe) angeboten wird. Mein Vater erzählte, dass eine Kolumne, die er in der Zeit um 1930 im oberschlesischen Lokalblättchen gerne gelesen habe, den Titel trug »Wo der Żur dampft«, was so viel bedeutete: wo man gemütlich beisammen sitzt und die neuesten Geschichten erzählt. In diesem Restaurant dampft sicherlich der Żur, wahrscheinlich sogar der Żurek królewski, der Königs-Żur. Und nicht nur dass hier das Schlesische Himmelreich, die schlesische Bouillon mit Fadennudeln, der Sauerbraten und die schlesischen Mohnpielen vorm Aussterben bewahrt werden, ist erwähnenswert, sondern dass zur Weihnachtszeit polnische Gänse mit einer Rosinen-Mandelsoße und Klößen von den polnischen Restaurantbetreibern in ein typisch schlesisches Gericht verwandelt werden.

Auch das Restaurant Schlesisch Blau in Kreuzberg wird übrigens sehr gelobt. Aber der Name lockt auf eine falsche Fährte. Die Küche ist rein französisch und der Name rührt lediglich von seiner Lage her: der Nähe zum Schlesischen Tor.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 29. November 2010

Allerheiligen

Hedwigsfriedhof
Nur zu Allerheiligen tummeln sich die Angehörigen etlicher Verstorbener auf den katholischen Friedhöfen Berlins. Viel mehr rote Grabkerzen als sonst üblich brennen an diesem katholischen Feiertag. Einige Gräber auf dem Hedwigsfriedhof, meistens polnische oder oberschlesische, sind mit Kerzen, Grableuchten und Laternen geradezu überhäuft, kleinen flackernden Inseln gleich, die sich gegen das graue Licht des Novembers anstemmen. Hastig werden gelbe Ahorn- und Buchenblätter von den Gräbern geharkt, die sich bislang auf alle Gräber und Wege gleichmäßig verteilt hatten. In das Geraschel der Blätter mischt sich regelmäßig das Gezischel der S-Bahn. Dann wird es stiller. Noch wölben sich die orangegelben Hauben der Trauerbuchen über den Gräbern. Nach ein, zwei Herbststürmen werden sie kahl sein. Dann wird der Schnee kommen und der Frost. Die eine oder andere Grabstätte wird durch den kommenden Winter, durch Kälte und Frost beschädigt, gesprengt, verwittert. Schon jetzt rutschen manche Grabaufbauten ab und zerfallen. Die Krähen werden sich auf den kahlen Ästen niederlassen als schwarze, ungenießbare Winterfrüchte.

Leider ist es nicht üblich, auf Grabsteinen den Geburtsort zu verzeichnen. Dabei sind es auf dem Hedwigsfriedhof 2 an der Smetanastraße in Berlin-Weißensee sicher weit über fünfzig Prozent der Bestatteten, die aus Schlesien stammen. Man erkennt es an den Namen. Die typisch mittel-niederschlesischen Namen wie Witzel, Giesel, Wenzel, Zobel sind dabei weniger stark vertreten als typisch oberschlesische Namen wie Knossalla, Cimbollek, Skrobotz, Kaluza, Kamionka, Czwak, Kudelka, Tlach, Laschewski, Woitrik, Smala, Przyniczynski, die meisten im ausgehenden 19. Jahrhundert geboren. Es ist ein unspektakulärer Friedhof. Aber er zeugt von der Arbeitsmigration aus Schlesien nach Berlin um 1900. Viele der Ankömmlinge versuchten, dem sozialen Elend der schlesischen Viertel um den Schlesischen Bahnhof und das Schlesische Tor herum zu entgehen. Viele siedelten sich in Weißensee an. Auch dieser Friedhof wird zu Allerheiligen mit vielen roten Grabkerzen geschmückt und leuchtet still in seiner Abgeschiedenheit.

Hedwigsfriedhof im November
Weniger romantisch ist der Hedwigsfriedhof 3 an der Ollenhauerstraße in Reinickendorf gelegen. Im Dreiminutentakt schwebt ein Flugzeug nach anderen geräuschvoll und riesig herab, um auf dem nahen Flughafen Tegel zu landen oder von dort zu starten und ebenso geräuschvoll wieder am Himmel zu verschwinden. Pfarrer Josef Lenzel ist dort begraben. 1890 in Breslau geboren, kümmerte er sich während des Zweiten Weltkriegs in seiner Pfarrei in Berlin-Niederschönhausen um die polnischen Zwangsarbeiter, half ihnen und betreute sie seelsorgerisch. 1942 wurde er von der Gestapo verhaftet und starb im selben Jahr im KZ Dachau. Drei Gedenktafeln und zwei Straßenbenennungen in der Stadt zeugen von seinem mutigen Wirken in Berlin. Auch ihm brennen zu Allerheiligen rote Lichter.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 25. November 2010

Hedwigsfriedhof 1

Der alte katholische Domfriedhof der Hedwigskathedrale an der Liesenstraße lag nach 1945 zwischen den östlichen und westlichen Machtblöcken, nach 1961 auf dem Todesstreifen, dem Vakuum des Kalten Krieges. Nach der Wende war er wieder allen zugänglich, aber gerupft, geplündert, vieler Gräber beraubt. Reste der Berliner Mauer umgrenzen ihn an der einen Seite, hohe Brandmauern und eine weite Wiese mit Gräbern des protestantischen Domfriedhofs an der zweiten Seite und Gräber des französisch-reformierten Friedhofs, darunter das Ehrengrab Theodor Fontanes, an der dritten Seite. Zwischen 1961 und 1989 waren diese Friedhöfe schwer bewacht, die Gräber, die genau im Mauerstreifen lagen, wurden entfernt, die Grabsteine teilweise dazu benutzt, einen Kolonnenweg für die Fahrzeuge der Grenzpatrouillen anzulegen.

Grabstein des Priesters Otto Scholz
im Hedwigsfriedhof
Der alte Domfriedhof der St. Hedwigsgemeinde an der Liesenstraße wurde 1834 geweiht und ist heute der älteste katholische Friedhof der Stadt. Da die Hedwigskathedrale vor allem für schlesische Katholiken, besonders für den Adel, errichtet worden war, fanden sich ursprünglich viele Gräber von Schlesiern auf dem ersten katholischen Friedhof am Oranienburger Tor, der heute nicht mehr existiert, da er von Wohnhäusern überbaut wurde. Doch auch auf dem Nachfolge-Friedhof an der Liesenstraße finden sich noch schlesische Spuren. Neben Gräbern von Rheinländern, Westfalen, Bayern, Österreichern, Franzosen, Italienern, Spaniern und Polen gibt es bzw. gab es auch immer wieder Gräber von Schlesiern. Durch die Zeitläufe verloren gegangen ist das Grab von Johannes Janda aus Kleindarkowitz bei Hultschin, eines klassizistischen Bildhauers im 19. Jahrhundert, der sowohl in Schlesien als auch in Berlin etliche Werke hinterließ, so die Heiligenfiguren für das katholische Hedwigskrankenhaus an der Hamburger Straße oder das Relief »Maria, dem Hl. Dominikus den Rosenkranz reichend« in der Pauluskirche in Moabit. Oder das Grab des einstmals berühmten Schauspielers Karl Seydelmann aus dem schlesischen Glatz, eines Freundes von Karl von Holtei. Oder das Grab des aus Schlesien stammenden Theologen, Domprobstes und NS-Widerstandskämpfers Bernhard Lichtenberg, das in die St. Hedwigskathedrale verlegt wurde. Doch auch heute noch finden sich Gräber von Schlesiern oder Personen, die maßgeblich mit Schlesien in Beziehung standen, Gräber von schlesischen Priestern aus Breslau, Lauban, Glatz oder das Grab des aus Rheine in Westfalen stammenden Franz Anton Egells, des Pioniers des modernen Maschinenbaus in Berlin am Oranienburger Tor, der 1829, um sich günstige Rohstoffe zu sichern, im schlesischen Reinerz eine Eisenhütte, die Egellshütte, erwarb. Bekannt wurde Egells auch dadurch, dass er zehn Jahre lang den jungen Schlesier August Borsig bei sich beschäftigte, bevor dieser sich noch erfolgreicher selbständig machte.

Der Hedwigsfriedhof im Herbst
Der Hedwigsfriedhof 1 an der Liesenstraße ist eine Oase der Zeitentrücktheit, die seiner besonderen Lage im Zentrum der weltpolitischen Verstrickungen geschuldet ist. Auf engem Raum, der weit wirkt, weil viele Lücken klaffen, gibt sich die katholische Welt Berlins ein Stelldichein. Verrostete Grabeinfassungen, einstmals prachtvoll, erinnern an liegengebliebene Kutschen aus Alt-Österreich. Niederschlesische Namen wie Barthel oder Hahnel und oberschlesische Namen wie Grzeszkiewicz, Wosnik oder Kolodziejski zeugen von vielfältigen schlesischen Mitgliedern der St. Hedwigsgemeinde. Die leere Wiese des protestantischen Domfriedhofs öffnet den Blick auf eine Weltlandschaft zwischen Brandmauern und Prachtgruften. Die Gräber, die in die Brandmauer eingelassen sind, wirken eingesunken wie antike Grabmale. Die Atmosphäre wird dichter unter den Fliederbüschen. Die S-Bahn rattert vorbei, sie quietscht und zischelt, bevor sie in den Tunnel zum Nordbahnhof eintaucht. Trauerbuchen bewachen eingesunkene Gräber, um die sich niemand mehr kümmert. Eisenkreuze rosten vor sich hin. Marmorgrabsteine stehen schief wie wackelnde Zähne. Kreuze mit Holzdächlein erinnern an den lieblicheren Süden. In der glühenden Hitze des Sommers sind die weiten Wiesen verdorrt und die langen Gräser hängen welk und verbrannt um die Kanten der Gräber. Im Herbst sind sie mit Laub überhäuft. Leer ist der Friedhof und einsam. Wer keine Heimat hat – hier kann er Ruhe finden.

Fortsetzung am kommenden Montag.