Donnerstag, 6. Januar 2011

Theater

Im Buch wird es natürlich auch um Gerhart Hauptmanns dramatisches Wirken am Deutschen Theater und um sein Verhältnis zu Berlin und Schlesien gehen. An dieser Stelle sollen daher einige schlesische Vorläufer und Zeitgenossen Hauptmanns Erwähnung finden, die die Berliner Bühnenkunst entscheidend beeinflusst haben, deren Lorbeerkränze aber längst raschelnd verwelkt sind. Es ist schwierig, die Schauspielkunst vergangener Zeiten zu vergegenwärtigen. Man ist dabei auf die Einschätzungen prominenter Zeitgenossen angewiesen. So wurde der 1757 in Breslau geborene Schauspieler und Regisseur Ferdinand Fleck, der sich schon bei Schuldeklamationen am Breslauer Maria-Magdalenen-Gymnasium ausgezeichnet hatte, immerhin von Friedrich Schlegel als »erster tragischer Heros der deutschen Bühne« bezeichnet. Von Friedrich Wilhelm II. 1790 zum Regisseur des Königlichen Nationaltheaters ernannt, war Fleck einer der bedeutendsten Schauspieler des späten 18. Jahrhunderts. Ihm gelang in der Schauspielkunst, wie Langhans in der Architektur, eine glückliche Verbindung zwischen Romantik und Klassizismus.

Der 1793 aus dem schlesischen Glatz stammende Schauspieler Karl Seydelmann fand bereits im Zusammenhang mit dem Hedwigsfriedhof an der Liesenstraße Erwähnung. Nach seiner Zeit am Breslauer Stadttheater und einem unsteten Wanderleben wurde er 1838 für das preußische Hoftheater in Berlin engagiert, wo er - wichtig später für Gerhart Hauptmann - der realistischen Schauspielkunst zum Durchbruch verhalf.

Ebenfalls aus Schlesien kam der damals sehr populäre Schriftsteller, vor allem Dramatiker Ernst Raupach. 1784 in Straupitz bei Liegnitz geboren ließ er sich nach einem unsteten Leben 1824 in Berlin nieder. Sein Werk weist schlesische Charakteristika auf: mit der Herrscher-Verehrung, einem 16-teiligen Hohenstaufen-Zyklus, wollte er ein Nationales Theater begründen. Sein Sozialdrama »Der Müller und sein Kind« war so erfolgreich, dass es bis in 20. Jahrhundert auf den Spielplänen vieler Theater stand und oft regelmäßig zu Allerheiligen aufgeführt wurde. Doch nicht nur die ernste Gattung beherrschte Raupach. In seinen »Dramatischen Werken komischer Gattung« finden sich heute noch belustigende Dramen wie »Die feindlichen Brüder oder Homöopath und Allopath«. Sein Grab befindet sich auf dem Friedhof der Dreifaltigkeitsgemeinde am Halleschen Tor.

Heute noch zumindest ein wenig bekannt ist die 1862 in Breslau unter dem Namen Agnes Zaremba geborene Schauspielerin, die dann als Agnes Sorma weltweit große Erfolge feierte. Bereits mit dreizehn Jahren debütierte sie am Breslauer Lobe-Theater und kam dann 1884 ans Deutsche Theater in Berlin, wo sie in vielen Stücken Gerhart Hauptmanns mitwirkte. Ihr Mentor war Max Reinhardt, einer ihrer jugendlichen Verehrer der Student Thomas Mann.

Im Foyer des Deutschen Theaters steht eine Büste Gerhart Hauptmanns, geschaffen 1913 vom Bildhauer Kurt Kroner. Kroner, 1885 geboren, stammte aus einer Breslauer Rabbinerfamilie. Den sozialreformerischen Ideen und dem kulturellen Aufbruch nach dem Ersten Weltkrieg zugewandt, fertigte er Porträtbüsten von Karl Liebknecht, Ernst Toller, Erich Mühsam und vielen anderen Kulturschaffenden an. Die Büste Hauptmanns schuf er nach dessen Nobelpreisverleihung im Auftrag von Max Reinhardt. Gerhart Hauptmann schreibt über Kroners Kunst:
Welcher Adel liegt in der Ruhe der Plastik, entfernt von der flirrenden, flatternden Belebungsjagd und Kinohaftigkeit unserer Zeit! [...] Wenn man die Kroner'schen Ansätze sieht und das manchmal schöne Gelingen darin, so hat man das Ringen der Plastik unserer Zeit. Man hat darin überhaupt unsere Zeit: Gestalten, die wirr mit den Armen um sich schlagen, Köpfe von ägyptischer Treue, ein Stück Griechenland, etwa in den Formen eines Frauenleibes.
Dann schreibt Hauptmann etwas über Kroners Kunst, das vielleicht das Beste ist, was sich über Kunst überhaupt sagen lässt:
Sie nötigt mir immer wieder ein großes Interesse ab. Das Problematische an ihr bleibt das dauernd Anregende.
(Kurt Kroner, Berlin 1927, Vorwort)

Weitere Werke Kroners in Berlin befinden sich in der Nationalgalerie, im Deutschen Historischen Museum, im Jüdischen Museum und nicht zuletzt auf Kroners eigenem Grab auf dem Stahnsdorfer Friedhof: die lebensgroße Plastik »Der Trauernde«.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 3. Januar 2011

Riesengebirge in Berlin

Carl Gotthard Langhans war nicht nur ein bedeutender Baumeister, er tat sich in Berlin auch als – schneisenschlagender – Städteplaner hervor. Viele Architekten und Städtebauer des 19. und 20. Jahrhunderts gaben Berlin sein immer wieder wechselndes Gesicht. Einer der wichtigsten war der heute fast gänzlich in Vergessenheit geratene Hermann Mächtig. 1837 in Breslau geboren, erhielt er dort und in der Königlichen Gärtnerlehranstalt in Potsdam-Wildpark seine Ausbildung zum Gärtner. Zunächst arbeitete er in den Potsdamer Gärten unter Peter Joseph Lenné und Gustav Meyer, wurde 1870 dortiger Hofgärtner, bis er ab 1878 bis zu seinem Tod 1909 das Amt des Stadtgartendirektors in Berlin bekleidete. Wichtiges Anliegen war ihm, »Volksgärten« im landschaftsgärtnerischen Stil anzulegen, denn Gärten und Parks sollten nach Mächtigs Auffassung »Stätten der Bewegung, der Erholung, Orte geselliger Unterhaltung, auch des Naturgenusses, der Bildung und der Veredelung der Sitten« sein. Eine Vielzahl heute noch existierender Plätze und Parks in Berlin geht auf Mächtigs Planung, Verschönerung und Umgestaltung zurück, so der Treptower Park, der Pariser Platz, der Zentralfriedhof Friedrichsfelde, auf dem sich auch Mächtigs denkmalgeschütztes Grab befindet, der Leopoldplatz, der Senefelderplatz, der Wilhelmplatz, die Umgestaltung der Schloßstraße in Charlottenburg, der Kollwitzplatz, der Gendarmenmarkt, der seit 1848 bestehende Friedhof der Märzgefallenen, der 1900 von Mächtig wiederhergestellt und verschönert wurde, der Lützowplatz, der Arnswalder Platz, der Arnimplatz und der Brunnenplatz. Eine Straße in Potsdam wurde nach Hermann Mächtig benannt.

Im Zeitalter der Industrialisierung bemühte sich Mächtig darum, kleinere und größere urbane Zentren in Berlin gärtnerisch zu gestalten, um der dichtgedrängten Bevölkerung Plätze zum Atmen zu verschaffen. Ein auch heute noch besonders augenfälliges Beispiel dafür ist der Viktoriapark auf dem Kreuzberg. Bereits 1821 errichtete Schinkel auf der Kuppe des Kreuzbergs das Nationaldenkmal zur Erinnerung an die Befreiungskriege 1813. Aber erst über sechzig Jahre später wurde Hermann Mächtig mit der Gestaltung des gesamten Hügelterrains beauftragt. Zwischen 1888 und 1894 legte er den Landschaftsgarten mit geschlängelten Wegen an. Zur Betonung des Nationaldenkmals ersann er in der Hauptblickrichtung von der Großbeerenstraße her die Anlage eines Wasserfalls, der zweierlei Implikationen vereinigte: einmal sollte der Wasserfall an sich erhabene Gefühle auslösen und damit zu Emphase des Nationalen beitragen. Zum anderen ist er eine Miniaturnachbildung eines existierenden Wasserfalles. Seinem Entwurf ist, so Mächtig, »ein den angeführten Bedingungen entsprechender Wasserfall im Riesengebirge zu Grunde gelegt«. Belegt ist auch eine Dienstreise Mächtigs während er Planungszeit nach Hirschberg. Umstritten ist heute bloß, ob es sich beim Viktoriapark um eine Nachbildung des Zackelfalls, des Heynfalls oder eines anderen Wasserfalls in der Umgebung von Hirschberg handelt. Auch Reisen ins Riesengebirge waren im 19. Jahrhundert übrigens von nationaler Bedeutung, hatten seit Friedrich Wilhelm III. doch die preußischen Könige mit ihren Schlössern und Gärten das Hirschberger Tal in ein preußisches Elysium verwandelt. Im ausgehenden 19. Jahrhundert waren es auch immer mehr wohlhabende Berliner, die zur Erholung ins Riesengebirge reisten. Für all diejenigen aber, die sich solch Fahrten nicht leisten konnten, unter anderem auch die Arbeitsmigranten aus Schlesien, die sich im schlesischen Viertel in Kreuzberg drängten, baute Hermann Mächtig ein Riesengebirge en miniature mit einem Wasserfall, klein genug, die Ausmaße eines städtischen Parks nicht zu sprengen, und groß genug, Erhabenheits-, Sehnsuchts- und Nationalgefühle auszulösen.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 30. Dezember 2010

Brandenburger Tor

Das Brandenburger Tor ist ein Gradmesser, ein Seismograph für deutsche Befindlichkeiten. Die dortige Silvesterfeier 1989/1990 erging sich in Euphorie, die Silvesterfeier im Jahr darauf in Depression, bis sich die Stimmung langsam in einer Mittellage einpendelte. Ohne das Brandenburger Tor wäre Berlin kaum vorstellbar. Es ist beinahe gar kein Gebäude mehr, sondern eine Stadtikone, die in unausdenkbar vielen Variationen durch die Stadt geistert. Das Bauwerk ist ein Logo geworden. Es bedeckt in Kleinformat die Fenster der Berliner U-Bahnen, ziert rot auf gelbem Grund sehr stilisiert die Schnauze der Berliner Busse, es findet sich verformt mit bunten, herausgelösten, flott hingetuschten Säulen über die ganze Stadt verteilt, sogar gusseisern auf Gullideckeln. Junge Akrobaten studieren im Schul-Zirkus die Nummer Brandenburger Tor ein - die Pfeiler aus aufrechtstehenden, die Attika aus darübergelegten Körpern. Die größten Triumphe der Nachbildung feiert es allerdings in den Touristenläden Unter den Linden. In Regalen, die selbst auch das Brandenburger Tor nachbilden, finden sich Teller, Trinkgefäße aller Art, von Zinnhumpen, über Keramikbecher bis hin zu geschliffenen Gläsern, vergoldete Schmuckanhänger, Aschenbecher, Porzellanglocken, Pergamentrollennachbildungen aus einem undefinierbaren Material, Pillendöschen und Fingerhüte, Porzellansenftöpfchen, Briefbeschwerer und Schneekugeln, batterieweise in allen Größen, die das Brandenburger Tor ab- und nachbilden. Es schneit wunderschön in diesen Kugeln, weiß und grünglitzernd.
Vor den Geschäften steht ein Prägeautomat und verwandelt das Eichenblatt des 2-Cent- oder 5-Cent-Stücks in ein Brandenburger Tor, damit die Kupfermünzen den 10-, 20- und 50-Centmünzen ähnlicher werden. Vor dem Brandenburger Tor selbst, dessen reale, physische Existenz man nach den vielen Devotionalien kaum noch glauben kann, ballen sich dann karnevaleske Geschichtskürzel: ein Vopo posiert neben einem amerikanischen GI, ein Berliner Bär neben einem Indianer, ein NVA-Mann neben einem futuristischen Ritter-Monster, während Bürgerrechtsgruppen aus aller Welt oder Tierschützer auf ihre Belange hinweisen.

Das Brandenburger Tor kennt jeder. Seinen Erbauer aber kennen nur wenige. Der Architekt Carl Gotthard Langhans, der beileibe nicht nur dieses Wahrzeichen erbaut hat, hat es in Berlin nicht einmal zur Benennung einer Straße gebracht. Anders als die Langhansstraße in Potsdam geht die Langhansstraße in Pankow-Weißensee nämlich nicht auf ihn zurück. Keine Gedenktafel, keine Schulbenennung weist auf ihn hin. Beerdigt wurde er in Breslau-Grüneiche, geboren im schlesischen Landeshut. Viele Bauwerke schuf er in Schlesien, viele in Berlin und Umgebung. Aber schon im 19. Jahrhundert wurde sein Name von Schinkels Namen verdunkelt. Das ist schade. Denn Langhans' Werk markiert die Schnittstelle zwischen Barock und Klassizismus. Es ist so mannigfaltig, dass es wieder entdeckt werden sollte. Das Buch macht sich auf diese Reise.

Fortsetzung am kommenden Montag.

Donnerstag, 23. Dezember 2010

Silesia cantat

Wie sagte ein aus dem Erzgebirge stammender Freund spöttisch, nachdem er das Weihnachtslied »wann das Rachermandel nabelt« (also: wenn das Räuchermännchen nebelt) zum Besten gegeben hatte? Gebirgsgegenden sind immer weihnachtsverdächtig. Das galt in hohem Maße auch für Schlesien. Immer wieder Berge, viel Gemüt, viel Brauchtum. Meine Mutter erzählt aus ihrem Dorf in Mittelschlesien, dass es dort üblich gewesen sei, in der Dämmerstunde des Heiligen Abends auf die Felder zu gehen und das Christkind mit der Flinte vom Himmel zu schießen.

Der gesangliche Höhepunkt des Weihnachtsabends in unserer Familie im Ruhrgebiet bestand, nachdem alle üblichen bekannten Weihnachtslieder gesungen worden waren, im Anstimmen zweier Lieder aus Schlesien. Einmal eine Vertonung des Eichendorff-Gedichts »Markt und Straßen stehn verlassen«, an dem mich die Perspektive des einsam durch die verschneiten Straßen einer Stadt stapfenden Wanderers stets begeisterte, an den Fenstern haben Frauen buntes Spielzeug fromm geschmückt, eines Wanderes, der dann die Stadtmauern verließ, tausend Kindlein stehn und schauen, sind so wunderstill beglückt, um in des Schnees Einsamkeit der Felder das wahre Geheimnis dieser gnadenreichen Zeit zu erfahren, während von draußen der Regen eines atlantischen Tiefausläufers an die Fenster schlug.

Und zum anderen das Lied »O du heilige, stille Nacht«, überliefert von meiner Großmutter aus dem Hultschiner Ländchen, ein Weihnachtslied, das so süßlich und alt-österreichisch klang, als entstammten die Jubelchöre der Weihnachtsengel mit ihren tremolierenden Girlanden direkt den katholischen Kirchenchören von Zauditz und Tröm. So sehr man sich auch dagegen wehrte: diese beiden Weihnachtslieder sprachen immer wieder das Gemüt an. Bevor dieses aber übermächtig werden konnte, belustigte uns der unglaublich pragmatische Realitätsgehalt eines bekannteren Weihnachtsliedes aus Oberschlesien, »Auf dem Berge, da wehet der Wind«, wenn es in dem Dialog zwischen Maria und Joseph heißt: »Ach, Joseph, lieber Joseph mein, ach hilf mir doch wiegen mein Kindelein!« »Wie soll ich dir helfen dein Kindlein wieg'n? Ich kann ja kaum selber die Finger bieg'n.« Um diesen Konflikt in ein zahnlos-süßliches »Schumschei, schumschei« einmünden zu lassen.

Kirchenchöre in Berlin und andernorts singen zur Weihnachtszeit immer wieder gerne Werke des Organisten und Kirchenmusikers Carl Thiel, der 1862 im schlesischen Klein-Öls geboren wurde, in Berlin wirkte und dessen vier- bis fünfstimmigen Chorsätze von »Ich steh an deiner Krippen hier«, »Freu dich, Erd- und Sternenzelt« und »Vom Himmel hoch, ihr Engel kommt« und vor allem »In dulci jubilo« sich großer Beliebtheit erfreuen. Aber der unbestrittene Höhepunkt eines jeden hellen und strahlenden Weihnachtsmorgens ist das »Transeamus«. Der Ursprung dieses Hirtenliedes liegt im Dunkeln, Transeamus usque Bethlehem, vermutlich entstand es aus einem liturgischen Krippenspiel in einem schlesischen Kloster, et videamus hoc verbum quod factum est, wurde dann nach Breslau überliefert und vermutlich in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in die heute bekannte Form gebracht, Mariam et Joseph et Infantem positum in praesepio, bis dann das Stimmenmaterial des weihnachtlichen Chorwerks von dem letzten deutschen Domkapellmeister Paul Blaschke 1945 aus dem Breslauer Dom nach Westdeutschland gebracht werden konnte, Transeamus et videamus quod factum est.

Das »Transeamus« ist pathetisch und weich zugleich, sein Bass ist großartig und seine Sopranstimmen klingen festlich und hell. Es ist nicht nur weihnachtsverdächtig, es verbreitet eine jubelnde Weihnachtsfreude, die länger nachhallt: Gloria in excelsis Deo, et in terra pax hominibus bonae voluntatis.

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Montag, 20. Dezember 2010

Schlesische Weißwürste

Schlesische Weißwürste waren das traditionelle Essen zu Heiligabend und Silvester in Schlesien. Sie bestehen aus Kalbfleisch, heute auch oft aus Schweinefleisch, sowie aus Schweinespeck, beide Bestandteile extrem fein unter Beigabe von Eis gekuttert, d. h. feiner als mit dem Fleischwolf zerkleinert. Entweder erhitzt man die Würste langsam im Wasser oder brät sie in Butter. Dieses typisch schlesische Heiligabendessen wird zusammen mit Kartoffeln oder Kartoffelbrei und Sauerkraut serviert.

In Berlin und Umgebung gibt es mehrere Fleischereien, die zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste anbieten, so die Neuland-Fleischerei Bachhuber, die Wurstabteilung des Kadewe und andere Fleischereien. Zum Beispiel die Fleischerei Grönke. Sie betreibt das Geschäft heute in dritter Generation, zog von der Bernauer Straße nach dem Zweiten Weltkrieg zum Prenzlauer Berg und von dort im Jahr 2004 nach Hohen Neuendorf ins nördliche Berliner Umland. Die Tradition, jährlich zur Weihnachtszeit schlesische Weißwürste herzustellen, etablierte sich schon vor etlichen Jahrzehnten. Da der Großvater des heutigen Betreibers aus Schlesien stammte, brachte er von dort das Rezept für die Würste mit. Diese werden hier aus Schweinefleisch unter Zusatz von frischem Zitronensaft und frischer Petersilie hergestellt. Ein Teil der Kunden kannte und kennt diese schlesische Weihnachtstradition aus eigener Erfahrung. Aber auch viele Berliner und Brandenburger, denen diese Würste zunächst fremd waren, kauften sie aus Neugierde. Da sie großen Anklang finden, müssen die Würste zur Weihnachtszeit immer vorbestellt werden und sind schnell ausverkauft. Ein Bekannter des Fleischers schlug aufgrund der Beliebtheit der Würste einmal vor, diese immer im Angebot zu führen. Diesen Wunsch musste der Fleischer ihm aber abschlagen: »Nein, schlesische Weißwürste gibt es nur zu Weihnachten. Das ist und bleibt etwas ganz Besonderes.«

Die Fleischerei Ullrich in Tempelhof, ein Familienbetrieb, bietet seit 1967 ganzjährig schlesische Wurstwaren an. Sie führt ständig vier bis fünf verschiedene schlesische Wurstsorten, so u. a. schlesische Wellwurst, schlesische Schinkenkrakauer, Breslauer, und zur Weihnachtszeit natürlich auch schlesische Weißwurst, aus Kalbfleisch hergestellt und mit Zitrone und Petersilie verfeinert. Eigene familiäre Bezüge des heutigen Fleischermeisters zu Schlesien gibt es nicht. Sein Vater hatte jedoch in Wittenberg bei einem schlesischen Fleischer gelernt und danach in verschiedenen Berliner Fleischereien gearbeitet, die von Schlesiern betrieben wurden. Erst dann machte der Vater sich selbstständig und nutzte sein schlesisches Fachwissen, um seinem Geschäft diese besondere Ausrichtung zu geben. Der Sohn führt die Tradition fort. Viele Kunden, die schlesische Wurzeln haben, kaufen bei ihm. Hin und wieder belieferte die Fleischerei Treffen des Schlesierverbandes im Deutschlandhaus mit Wellwurst und anderen schlesischen Spezialitäten. Ein zusätzlicher Wurststand in der Arminius-Markthalle führte zu einer großen Beliebtheit der schlesischen Wurstwaren auch in Berlin-Moabit.

Besonderer Beliebtheit erfreuen sich die schlesischen Blut- und Leberwürste mit dem dazugehörigen Sauerkraut. Die Fleischerei erhielt schon etliche bundesweite Auszeichnungen, vor allem für ihre schlesischen Wurstwaren, mehrfach hintereinander wurde ihr sogar der Titel »Berliner Bratwurstmeister« verliehen. Was sagte mir der Fleischermeister? Nach dem Krieg seien ja fast zwei Drittel aller Berliner Fleischer Schlesier gewesen. Und, wie es unter Fleischern hieß: »Jeder gute Berliner Fleischer kommt aus Schlesien.«

Fortsetzung am kommenden Donnerstag.

Donnerstag, 16. Dezember 2010

Mohn

Die Bäckerei Hutzelmann in Charlottenburg nennt sich »Schlesische Backstube«. Seit den zwanziger Jahren in Familienbesitz, existiert der Laden in der Wilmersdorfer Straße seit 1957. Der Großvater der heutigen Bäckerin kommt aus der Oppelner Gegend und hat von dort die schlesischen Backrezepte mitgebracht. Die Bäckerei bietet verschiedene Mohnkuchen, preisgekrönte Mohnstollen, Liegnitzer Bomben, schlesischen Butterstreußel in mehreren Variationen und schlesische Quarkpiroggen an. Überhaupt wird viel mit Hefe gebacken. Die Kunden sind zum Teil Berliner Anwohner, zum Teil kommen sie auch von weiter her gezielt in diese Bäckerei, weil sie schlesische Wurzeln oder eine besondere Vorliebe für schlesisches Backwerk haben. Bis in die achtziger Jahre hinein, so erzählt die Bäckerin, sei der Satz »Jeder gute Berliner Bäcker kommt aus Schlesien« zu Recht im Umlauf gewesen. Nun seien sie die einzige Backstube dieser Art in Berlin. Zu ihrer großen Freude habe sie eine Bezugsquelle für Mohn aus der Umgebung von Breslau aufgetan, wo es den guten Blaumohn gibt, der dann in der Backstube nach traditionellem Verfahren lange in einem großen Kessel gebrüht wird. Man schmeckt es.

Mohnklöße bilden zum traditionellen schlesischen Weihnachts- und Silvesteressen den Nachtisch. Sie bestehen aus Mohn, eingeweichten Brötchen, Mandeln und Rosinen in süßer Milch. Ein Schuss Rum nimmt dem Gericht das Klebrige und macht es pfiffiger. Dem berühmten, aus Breslau stammenden Theaterkritiker Alfred Kerr, der 1887 von Schlesien nach Berlin ging und sich dort wie ein Fisch im Wasser tummelte, fehlten in der deutschen Hauptstadt zu seinem Vollglück nur zwei Dinge, derer er sich mit Wehmut erinnert: Bauerbissen, also eine Art großer Pfefferkuchen, und schlesische Mohnklöße:
»Bauerbissen, sicher der erdgerüchigste aller Pfefferkuchen, den man in Schlesien für einen Sechser pfundweise fröhlich aß, er lässt sich nicht aus der Erde stampfen. Verschollen sind die Tage, wo uns die Kinnbacken schmerzten, vom vielen Kauen des frischen, weichen Zeugs. Bauerbissen, du bist ein Mythus, du lächelst herüber aus der Geisterwelt, grüßend und dich neigend und einsam verschwindend. Bauerbissen, du bist die Vergänglichkeit. Bauerbissen, du bist die Ahnung des ersten grauen Haars. Bauerbissen, nie werde ich dich wieder so fressen (es muss heraus, das schändliche Wort) wie einst im Dezember. Bauerbissen, was hier unter deinem Namen verschleißt wird, ist altes Leder. Die Zähne bricht man sich aus; und es schmeckt nach Wichse.«

Gedenktafel für Alfred Kerr am Haus
Höhmannstraße 6 in Berlin-Grunewald
Und auch der Vergleich der schlesischen Mohnklöße mit den Berliner Mohnpielen fällt für letztere verheerend aus:
»Und auch ihr, meine lieben Mohnklöße, seid eine Melancholie, ein Märchen aus alten Zeiten. Ihr seid versunkene Kränze. Semmel im Wasser mit schwarzem Mohn und Vanille, darin liegt eure Größe. Hier nennt man euch – uäh, uäh! – Mohnpielen. Das ist die gemengte Speise aus süßlichem Rosenwasser, mit kleinen glitschigen Würfelchen und weißem fadem Mohn und etwas Zucker, und schmeckt nach nichts. [..] Mohnklöße meiner Jugend, lebt wohl. Zieht hinab den leuchtenden Strom der Vergänglichkeit, in die Dämmerung, in die seltsam dunkle Ferne, wo die große Stille herrscht.« (Alfred Kerr, Mein Berlin. Schauplätze einer Metropole, S.153f.)

Auch bei Fontane spielen Mohnpielen eine Rolle, in seinem Romanerstling Vor dem Sturm nämlich, und auch hier ist die Rolle fragwürdig. In dem Kapitel »Bei Frau Hulen« (3. Band, 4. Kapitel) lädt Frau Hulen, die Berliner Zimmerwirtin des adligen Protagonisten, Gäste ein und bewirtet sie mit etlichen Gerichten. Mohnpielen, »auf dem Mohn eine dichte Lage von gestoßenem Zimt«, werden hier als erster Gang gereicht. Die ganze Szene ist als Zerrspiegelung des Gesellschaftslebens der großen Welt auf Kleinbürgerniveau angelegt. Gespräche misslingen, Eitelkeiten werden verletzt, Bildungsgehabe misstrauisch beäugt. Es ist ein Kabinettstückchen der Abgrenzung von millimeterfeinen Standesunterschieden. Zum Schluss ist nur Frau Hulen restlos zufrieden. Alle anderen Gäste streben auf der Straße auseinander und versichern sich ehepaarweise, das man dort nicht mehr hingehen könne. Und ein besonders triftiges Argument dabei lautet:
»Die Hulen ist eine gute Frau, aber was waren das für Pilen? Semmelstücke, und das bißchen Mohn kratzig und multrig.«

Fortsetzung am kommenden Montag.

Montag, 13. Dezember 2010

Schlesische Musik

Im Jahr 2001 erschien im Wißner-Verlag das Schlesische Musiklexikon, herausgegeben von Lothar Erbrecht-Hoffmann. Auf beinahe tausend Seiten drängen sich Namen, biographische Angaben, Werkverzeichnisse von Komponisten, Musikern und Musikwissenschaftlern aus Schlesien, die dort und andernorts wirkten. Viele von ihnen kamen im 19. Jahrhundert und später nach Berlin, wirkten hier und prägten die Berliner Musiklandschaft entscheidend.

So der Komponist und Musikpädagoge Julius Stern, 1820 in Breslau geboren, der bereits 1832 nach Berlin kam, durch ein Stipendium Friedrich Wilhelms IV. gefördert wurde und 1847 einen eigenen Gesangsverein gründete, der eine ernsthafte Konkurrenz zur berühmten Berliner Sing-Akademie darstellte. Werke von Felix Mendelsohn-Bartholdy und Beethoven wurden dort aufgeführt. 1850 gründete er eine Musikschule, das spätere Stern'sche Konservatorium, eine bedeutende Ausbildungsstätte für musikalischen Nachwuchs in Berlin - übrigens auch heute noch. Die entsprechende Einrichtung der Universität der Künste (UdK) trägt den Namen Julius-Stern-Institut für musikalische Nachwuchsförderung. Sterns Grab befindet sich auf dem jüdischen Friedhof in Weißensee.

Es ist müßig, alle aus Schlesien stammenden Musiker und Komponisten, die in Berlin wirkten, aufzuzählen. Die Liste wäre unübersichtlich lang und doch immer unvollständig. Einige große Namen finden sich auch im Buch. Nur wenige sollen hier erwähnt werden. Es ist erstaunlich, wie viele Organisten, die in Berlin tätig waren, aus Schlesien stammten, so Heinrich Reimann, 1850 im schlesischen Rengersdorf geboren, der zunächst Organist der Berliner Philharmonie, dann der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche war. Oder Otto Dienel, 1839 in Tiefenfurt im Kreis Bunzlau geboren, Organist der Berliner Marienkirche, der um 1900 der bekannteste Organist Berlins war. Der Aufstieg Dienels vom kleinbürgerlichen Kantorensohn aus der niederschlesischen Provinz zum angesehenen Berliner Bildungsbürger ist fast exemplarisch zu verstehen: im Buch werden ähnliche Karrieren im Zusammenhang mit Adolph Menzel und August Borsig nachgezeichnet.

Otto Dienels Bekannt- und Beliebtheit war auch seinen kostenlosen »Orgelvorträgen« geschuldet, die er immer mittwochs abhielt und die aufgrund ihrer Lebendigkeit und Improvisationsfreudigkeit bei Zuhörern aller Schichten derart beliebt waren, dass die Marienkirche oft polizeilich geschlossen werden musste, da sie die heranpilgernden Massen nicht mehr fassen konnte. Wer seine Choralbearbeitung »Wer nur den lieben Gott läßt walten« hört, kann die damalige Begeisterung teilen: mit leichter Hand gelingt es ihm, den ernsten, strengen Bachchoral mit spätromantischen Ornamenten zu umgeben, ja beinahe impressionistisch zu betupfen, was den Choral in einen musikalischen Schwebezustand versetzt.

Auch der 1862 in Liebau bei Landeshut geborene Conrad Ansorge war ein spätromatischer Komponist, wenngleich nicht Organist, sondern Pianist. Seine »Traumbilder« (Op. 8) mit den elegischen Zwischentiteln »Erinnerung«, »Vergangenheit«, »Zu spät (nach Lenau)« sind von eingängigen Harmonien ohne Schärfe geprägt, sie sind weich, gefühlsbetont, an manchen Stellen beinahe süßlich. Mit den Musikern und Komponisten aus Schlesien kam ein anderer Ton in das preußisch-karge Berlin, etwas weniger Hartes, eine noch eher aus Österreich stammende Tradition, etwas Gefühlvolleres, Seelenvolleres. Diese neuen Töne der Gemütstiefe fielen in Berlin auf fruchtbaren Boden. Das Ehrengrab für Conrad Ansorge auf dem Friedhof an der Heerstraße und die Gedenktafel an seinem Haus Nußbaumallee 27 in Berlin-Westend zeugen davon ebenso wie das prunkvolle Grab des heute zu Unrecht fast vergessenen Otto Dienel auf dem Friedhof an der Bergstraße in Steglitz, das ihm seine dankbaren Schüler errichteten.

Beide Abbildungen: © Universitätsbibliothek Frankfurt am Main – Porträtsammlung Friedrich Nicolas Manskopf, mit freundlicher Genehmigung der Universitätsbibliothek Frankfurt am Main